Schachjunkie (Eine Erzählung)

Wer je mit Schachspielen ‚ernsthaft‘ zu tun hatte, weiß sofort was ich meine: Sobald sich Figuren auf dem Schachbrett bewegen, starrt der Schachspieler fasziniert hin und alles um ihn herum wird weniger wichtig als das, was auf dem Brett passiert. Dabei ist es völlig egal, ob es sich um Spitzenschach von Weltklassespielern handelt oder ob um klassische Kaffeehaus-Schachspiele. Schachspielen macht süchtig! Du kannst auf keiner Feier, zu der Schachspieler eingeladen sind, ein Schachbrett aufstellen. Die Autisten versammeln sich sofort ums Brett und jedes Gespräch verstummt oder dreht sich nur noch darum, ob der Springer auf g6 nicht doch besser auf e5 geblieben wäre, als sich die Bauernwalze in Bewegung setzte. Einmal spielten wir in einer Kneipe ein paar Partien Blitz und neben uns stand eine Kerze, die beim Umfallen den Vorhang in Brand setzte. Aber anstatt aufzuspringen und das Feuer zu ersticken, zockten wir einfach weiter – weil gerade vier Damen auf dem Brett waren! Ja. Ich gestehe. Mehr als 25 Jahre war ich extrem abhängig von der Droge Schach, bevor ich 2016 die Notbremse zog. Was ich immer noch ganz gerne mache, ist das Verfolgen von hochklassigen, unkommentierten Partien – und manchmal spiele ich in der U-Bahn ein paar Blitzschach-Matches gegen eine etwa gleich starken Engine (weil ich zu nervös bin, um gegen Menschen online zu spielen), während die Haltestellen an uns vorüber ziehen. Und selbst dann noch passiert es oft genug, dass ich das Aussteigen verpasse und mit der gegenseitigen Bahn wieder zurück fahren muss. So wie mir geht es tausenden von Schachjunkies in mehr oder minder ausgeprägten Suchtphasen und wer nie dem Spiel verfiel, kann das nicht verstehen. Es ist der sprichwörtliche See, in dem eine Fliege baden kann, aber der Elefant ertrinkt. Und als ich damit anfing, hat mir das Schachspielen aus einer Depression geholfen, die man nur schwerlich als noch gesellschaftsfähig beschreiben konnte. Ich bin der Begegnung mit dem Spiel dankbar. Darum hab ich meinen Weg hier beschrieben:

To whom it may concern!

Als ich selbst schon 25 war, ging es los. Ich kannte die Regeln. Aber bisher war das immer so, dass ich quasi unendlich Zeit hatte, irgendwas zu ziehen und als die Figur dann endlich bewegt war, fiel mir hinterher auf, dass andere Züge doch besser gewesen wären. Aber was hier auf den Brettern bewegt wurde, als ich es das erste Mal live sah, das hatte doch nichts mit dem Schach zu tun, das ich kannte? Fünf, sechs, sieben Spieler saßen in einer Tisch-Reihe und gegenüber auch und dann hackten sie erst die Figuren auf den Brettern rum und nach jedem Zug auf die Schachuhr, dass es nur so krachte. Mein erster Besuch im Schachverein zehn Jahre zuvor kam komplett anders rüber. Ich stand damals schüchtern im Flur einer Altbauwohnung und dann rief der Typ, den ich ansprach zu ’nem anderen: „Hey, Rainer, teste den mal ob der überhaupt spielen kann“. Und nachdem er mich drei Mal getestet und abgezogen hatte, winkte er ab: „Der kann nix“. So war das damals. Und dann hatte ich die Nase vom Schachspielen für zehn Jahre voll.

Aber in dieser Kneipe, jetzt beim zweiten Mal im Februar 1990 war alles anders. Ich wusste gar nicht, dass man so viel Lärm beim Schachspielen machen konnte und es wurde total viel Blödsinn dabei geredet und es wurde gesoffen und geraucht und gescherzt dabei, so dass ich dachte: Hier bist du doch genau richtig! Also setzte ich mich und sah es mir genauer an. Dass man sich so schnell entscheiden und ziehen konnte – dass man eine ganze Partie in wenigen Minuten spielen konnte, das war mir einfach unbegreiflich. Bisher hatte ich als einzige Gegner meinen Opa oder meine Mutter am Brett besiegt, wie sollte ich denn mit denen je mithalten? Dann fragte mich jemand, ob ich mit ihm spielen will, aber ich dachte sofort an die erste Pleite im Schachklub vor zehn Jahren und traute mich nicht. Ich sah lieber weiter zu. Und ich fand es faszinierend. Ich versuchte mir zu merken, in welcher Position was gezogen wurde und als ich noch drei Mal gefragt wurde, sagte ich Okay und versuchte ohne Nachzudenken das zu ziehen, was ich mir gemerkt hatte. Das ließ mich zwar auch in nur wenigen Minuten ganze Partien spielen, aber natürlich verlor ich jedes Mal. Außer ein einziges Mal, wo jemand einfach aufgab und ich gar nicht verstand, warum. Ich war 25. Und ich wusste an diesem Abend von der ersten Sekunde an, dass ich in den nächsten Jahrzehnten was zu tun hatte.

Ich verbrachte die Zeit bis zum nächsten Schachabend, mir die besten Züge in jeder Eröffnung zu merken, soweit ich mich dran erinnerte. Ich begriff zwar noch immer nicht, wozu ausgerechnet diese Züge gut waren, aber es ließ mich zehn, fünfzehn Züge lang überleben und sogar ausgeglichen stehen, bis ich wieder auf meine eigene Rechenkraft angewiesen war. In den nächsten Wochen und Monaten lernte ich, was die einzelnen Figuren wert waren, worauf es beim Aufbau ankam und entwickelte schnell ein Gefühl dafür, zwischen zwei oder drei Kandidatenzügen den besten zu wählen. Was mir absolut fehlte und mir am allerschwersten fiel, war das Abwickeln von guten Stellungen in gewonnene Stellungen und selbst dann fiel es mir noch schwer, Vorteile in einen Punkt umzuwandeln. Und so stellte sich ein immer wiederkehrendes Phänomen ein: Ich verstand einfach nicht, wieso ich immer wieder verlor, obwohl mir meine Partien ganz gut gefielen. Hätte ich dieses Spiel doch bloß gelernt, als ich ein Kind war – das dachte ich mir oft! Jetzt musste ich richtig hart kämpfen und lernen, wie man eine Partie überhaupt gewinnen kann. Doch einer der wesentlichen Vorteile in diesem neu gegründeten Verein war, dass ich mich auf dem Brett immer wieder neu ausprobieren konnte, ohne dass sich jemand abwandte und nicht mehr mit mir spielen wollte, weil ich so patzte. Glücklicher Weise waren nicht alle im Verein so stark, so dass ich manchmal auch gute Chancen hatte, zu gewinnen. Außer den erfahrenen und langjährigen Spielern gab es auch andere Anfänger wie mich und von denen wiederum einige, die deutlich weniger ambitioniert waren. Für mich war es jedoch wie eine Offenbarung. Ich war begeistert davon, dass jede Partie anders verlief und manchmal waren die Wirrungen und Wendungen auf dem Brett so überraschend, dass ich extremen Ehrgeiz entwickelte, um das Spiel zu verstehen.

Ich begann damit, mich für alle möglichen Turniere und Spiele anzumelden. In klassischen Partien hatte man stundenlang Zeit auf der Uhr, in Schnellschachpartien zehn oder zwanzig und im Blitzen fünf. Angst vorm Verlieren hatte ich keine. Aber ich nahm mir jede einzelne meiner Turnierpartien, analysierte sie alleine und dann wieder mit meinen Buddies im Verein und zwar so lange, bis ich dahinter kam, an welcher Stelle das Spiel falsch für mich lief. Ich entwickelte mir einen kleinen und eigenen Trick, von der ganzen Paukerei um Eröffnungszüge und Zugfolgen wegzukommen, indem ich mich auf eine möglichst schräge und abseitige Eröffnungsvariante spezialisierte. Es war für meine schachliche Entwicklung nicht zwingend gut, die Partie mit 1.b4 zu beginnen, aber am Brett war es auch für die besseren Gegner überraschend und ich hatte meine diebische Freude damit, sie überrascht und rechnend zu sehen. Sie mussten sich damit die gleiche Mühe und Rechenarbeit machen, die ich selbst auch mit ihren gewöhnlichen Eröffnungen hatte – und so zeigte sich rasch Erfolg.

Ich begann, eine Reihe von Partien zu gewinnen und sah dabei zu, wie sich meine Wertungszahl veränderte, die relativ schnell nach oben anwuchs. Wer sich mit so was nicht auskennt, der sollte wissen, dass die erste Wertungszahl bei Anfängern etwa 1200 Punkte sind. Es können auch weniger werden oder mehr sein, aber bei mir lag sie definitiv auf diesem klassischen Niveau. Von nun an legte ich in jedem Jahr etwa fünfzig Punkte zu. Es gab überhaupt nie einen Schritt zurück und genau so, wie man den Zuckerjunkie mit Schokolade füttert und den Zigarettenjunkie mit Nikotin, so gibt man dem Schachjunkie seine Wertungspunkte. Es wurden mehr und mehr davon. Nach zwei Jahren Turniererfahrung war ich bereits so ehrgeizig und angefixt, dass ich zwar noch nicht verstand, wie man auf so unerreichbare Zahlen wie 1700 kommen kann, aber für mich war völlig klar, dass ich da hin wollte. Noch spielte ich bei Spieltagen gegen andere Vereine am vierten, fünften oder sechsten Brett, aber ich wollte nach vorne und ich genoss es, wenn ich fürs Gewinnen gelobt wurde. Genauso aber nagte es an mir, wenn ich verloren hatte und bevor ich nicht die ganze Abwicklung auf dem Brett aufs Genaueste untersucht hatte und verstand, wieso ich die Partie verloren hatte, war ich nicht zufrieden. Es war mir ja völlig klar, dass ich es nicht mehr zu den großen Meistern oder in die Bundesliga schaffen würde, aber hier regional und im Verein was zu reißen, das nahm ich mir fest vor.

Spätestens in dieser Phase wurde es zur einer absoluten Sucht. Ich spielte zwei komplette Spielzeiten, ohne auch nur einen halben Punkt abzugeben. Wann immer irgendwo ein Brett stand und sich gerade niemand daran störte, baute ich meine Schachpartien nach und beschäftigte mich damit. Ich weiß nicht, was das Internetzeitalter von heute mit mir angestellt hätte, aber ich las alle Schachzeitschriften von der ersten bis zur letzten Seite, kaufte mir Unmengen von Schachbüchern, analysierte meine eigenen Partien und die der großen Meister. Ich hörte aufmerksam zu, wenn starke Spieler über die einzelnen Situationen und Spielabschnitte sprachen, merkte mir die Analysen und begann damit, anderen meine Spiele und auch meine Fehler zu erklären, damit ich sicherer in den Einschätzungen wurde. Und schließlich gelang es mir, eine eigene Stärke zu entwickeln: Der Aufbau von der Eröffnung bis ins späte Mittelspiel hin gelang mir besonders gut und es gab faktisch keine Partie, in der ich nicht mindestens ausgeglichen oder besser stand, bis eben zu dem Punkt, an dem ich aus guten Stellungen auch gewonnene Partien formen wollte. Da wurde es oft zufällig und schwer kalkulierbar. Die groben Fehler kamen aber in den folgenden Jahren immer seltener, die Wertungszahl stieg und die Sucht wurde stärker und stärker. Ich besaß ein gutes Auge für Stellungen, die mir bekannt vor kamen – was kein Wunder war, da ich all meine Partien aus dem Gedächtnis nachspielen konnte. Selbst als ich längst die ersten hundert Spiele hinter mir hatte, wusste ich immer noch, wie meine sechste oder meine vierzehnte Partie verlief. Und so verging Jahr für Jahr, in denen ich Punkte fraß wie Godzilla, bis ich erstmals 1800 erreichte und mein ehrgeiziges Ziel von damals erreicht hatte. Sich als Erwachsener von einem blutigen Anfänger bis zu den besten Spielern im Verein zu spielen, war mir gelungen. Aber was jetzt?

Schach sollte mir in dieser Phase noch ein zweites Mal aus der Patsche helfen. Nachdem ich meine depressiven Phasen überwunden hatte und Schach zur nächsten Droge meines Lebens konvertierte, nahm ich hin und wieder ehrenamtliche und später freiberufliche Engagements an, die gleichfalls was mit Schach zu tun hatten. Der erzählerische Sprung ist hier heftig, aber ich übernahm die Presse- und Medienarbeit beim deutschen Schachbund und kam so dazu, die Schacholympiade 2008 mit zu organisieren, lernte jeden lebenden Weltmeister im Schach kennen und diese Arbeit half mir auch, mich neu zu orientieren. Das ist zwar eine ganz andere Geschichte, aber da ich gerade davon erzähle, gehört auch das dazu. Ich hatte nun keine Zeit mehr, mich so intensiv mit dem Spiel selbst zu beschäftigen, wie das noch vor der Zeit beim Schachbund war. Aber es brachte mir eine komplette und beruflich wichtige Veränderung in mein Leben, über die ich sehr glücklich bin. Als ich damit aufhörte und nach Jahren endlich wieder dazu kam, einen Schachverein zu besuchen, war das Spielen für mich zu aufwändig für meine Zeitplanung geworden. Obwohl ich mir zunutze machte, mich auf Eröffnungen mit immer ähnlichen Stellungsbildern zu konzentrieren, konnte ich mich nur noch damit verbessern, Abspiele nach dem zehnten oder zwölften Zug zu studieren. Und das kostete alles irre viel Zeit. Es war mir jetzt zu viel geworden, weil ich feststellte, dass ich gerade an meine Grenzen kam.

Es erforderte nun wöchentlich, sich stundenlang neue Varianten anzusehen. In den Turnierpartien, die oft fünf oder sechs Stunden dauerten, hatte ich jetzt richtig gute Gegner – nämlich all die, die früher für mich unerreichbar stark spielten. Ich war selbst im Bereich zwischen 1900 und 2000 angekommen und trotz aller Energie, überwog nun die Mühe und Arbeit, jede Woche so viel Zeit zu investieren. 2015 war schließlich das erste Spieljahr, in dem ich am Ende der Saison weniger Wertungspunkte hatte und schließlich schlechter dastand, als zum Beginn der Saison. Das also war zweifelsfrei das obere Ende meiner Leistungsfähigkeit und ohne weitere Investitionen und Zeit würde es auch nicht mehr weiter gehen. Und wenn ich nach fünf oder sechs Stunden Spiel durch einen leichtsinnigen Zug die Partie noch herschenkte und darüber nachts nicht mehr schlafen konnte, kroch ich morgens wie ein Zombie zu meinem Schreibtisch am Arbeitsplatz. Das lag vor allem daran, dass ich die Partie im Geiste immer wieder durchspielte, bis mir klar war, an welcher Stelle ich sie vergeigt hatte. Und dann konnte ich erst recht nicht mehr schlafen!

Nunja, ich zog also die einzig richtige Konsequenz (wie ich finde) und hörte mit dem Spielen einfach auf. Inzwischen hab ich einen ganz gemütlichen Umgang mit meiner Droge gefunden, indem ich mir manchmal auf Youtube die großen Meister ansehe. Und wenn ich beim Spielen die Zeit vergesse und tatsächlich die Halte verpasse, ärgere ich mich zwar kurz, muss dann aber doch drüber lachen. Aber falls Ihr das hier gerade in der U-Bahn lesen solltet, schaut doch mal eben, wie weit Ihr seid.
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