Hoch im Norden

„Hier steht, dass das Ticket fünfzehn Mark kostet“, rief Natalia begeistert. „Das macht sieben fuffzich für dich und sieben fuffzich für mich. Wenn wir noch drei finden, sind es nur drei Mark für jeden, das klingt doch mal ganz gut“. Unser Leben paradiesisch, aber chronisch von Geldmangel geprägt. Und das hier war ein Angebot, das genau in unser Jagdschema passte. Wir liebten das Reisen und hatten Zeit ohne Ende. Das neue Wochenend-Ticket der Bahn galt für fünf Personen und in den Zeitungen las man, wie sich Fünfer-Gruppen für je eine Mark fünfzig pro Weg gegenseitig damit überboten, was man so alles entdecken konnte. Von Garmisch-Partenkirchen bis zur Nordsee und zurück waren die Regios proppevoll. Es war genial. Und wie für uns gemacht. Wir packten Zelt und Rucksäcke, sahen uns Husum, Büsum und Nordstrand an, waren in Dresden, Erfurt und im Erzgebirge, wanderten in Bayern, am Bodensee oder im Schwarzwald. Geld zum Übernachten hatten wir so gut wie keins, aber es gab Campingplätze oder kleine Hütten oder Freunde irgendwo in Deutschland und wenn es sein musste, stellten wir unser Zelt einfach in die Landschaft. Einmal strandeten wir nachts in Rotenburg an der Wümme, wo wir uns zwischen Bahnhof und Innenstadt in ein Waldstück verzogen – und ein anderes Mal auf einem Acker, wo uns morgens wilde Kaninchen besuchten. So lange wir den Camping-Gaskocher dabei hatten und einen Supermarkt in der Nähe war alles geritzt.

Na jedenfalls, auf dem Weg nach Flensburg hatten wir uns mit dem Wetter vollends verschätzt. Dabei ging es noch ganz gut los, weil wir unsere drei Mitfahrer-Tickets gegen Kekse, Bier oder hausgemachten Kuchen tauschten. Es war Ostern und das Wetter bei uns war eigentlich prima und sonnig warm, aber als wir endlich in Flensburg ankamen, wo ich nachts noch jemandem das Ticket für drei Mark weiter verkaufte, realisierten wir ziemlich schnell, dass es hier oben im Norden nasskalt war. Das ging die ganze Woche so und auf dem Campingplatz waren wir die meiste Zeit am einzig warmen Ort, der Gemeinschaftsküche. Ich glaube, Natalia und ich waren die einzigen Irren, die um diese Zeit hier im Zelt aufkreuzten und eines der beiden Highlights dieser Woche war, dass wir uns im Supermarkt mit reichlich Biersorten eindeckten und in der Küche eine Party zu zweit feierten, indem wir die Flaschen eine nach dem anderen knackten und sie fein säuberlich in den Kriterien Farbe, Einstieg, Körper, Abgang, Kohlensäure, Bitterkeit und Süffigkeit beurteilten. Dass ich mich nicht mehr an den Sieger erinnere, zeugt von einem gelungenen Abend. Das andere Highlight war, dass wir uns zwei Fahrräder ausliehen und in die Innenstadt fuhren, weil wir über ein Plakat am Campingplatz erfuhren, dass man mit der Fähre nach Dänemark übersetzen konnte.

Gegen Elf kamen wir dort an, aber das Wetter hatte sich nochmals verschlechtert, so dass unsere Laune auf Null war, als wir das Schiff betraten. Der Regen und der heftige Wind hier oben peitschte uns schon während des Radfahrens entgegen, so dass wir schon durch das Betreten des Schiffs dankbar dafür waren, in einem geheizten und trockenen Raum anzukommen, wo wir uns nicht mehr gegen irgendwelche Naturgewalten wehren mussten. Wenigstens kostete es nix und als wir reinkamen, drückte uns jemand Gutscheine für vier zollfreie Zigarettenpäckchen in die Hand und außerdem einen Gutschein für den man zwei Getränke zum Preis von einem erhielt, was unsere Laune schlagartig verbesserte. Es war erstaunlich leer unter Deck, wo wir einen schönen warmen „Rum mit Tee“ bestellten und eine Kunstlederbank über dem Heizungsgitter fanden, von dem herrlich warme Luft aufstieg. Wir zogen unsere klitschnassen Hosen aus und legten auch alles andere Entbehrliche zum Trocknen drüber. Und da saßen wir dann erst mal auf unserem schönen warmen, roten Kunstleder in Unterhosen und starrten auf die beschlagenen Scheiben und die runter rinnenden Regentropfen. Außer uns war nur eine Gruppe von Dänen auf dem Schiff, die schon vor 12 reichlich besoffen waren und die bemerkten uns zunächst gar nicht. Wir tuckerten also raus aus dem Hafen und ’ne halbe Stunde später legte der Dampfer im dänischen Kollund an, wo einer der Dänen ausstieg und mit einer Hand voll neuer Gutscheine wieder reinkam. Dann legte die Fähre wieder ab und als wir in Flensburg zurück waren, stand wieder einer auf und kehrte mit neuen Gutscheinen zurück in die warme Stube. Jetzt hatten wir das System verstanden. Das Boot war mehr so eine schwimmende Kneipe und die Dänen, für die der Alkohol und die Zigaretten drüben zu teuer war, saßen sich hier die Hintern an einem verregneten Sonntag platt und ließen es laufen.

Und so blieben wir mit der nordischen Party an Bord, denn wir hatten ja ohnehin nichts vor und hier war es schön trocken, der Alkohol erschwinglich und nach und nach klarten auch die Scheiben auf. Beim übernächsten Stopp kam einer vom Feiertisch und fragte nach unseren Zollfrei-Zigaretten-Gutscheinen. Dafür musste ich die Hosen anziehen, das Boot pro forma verlassen und wieder betreten. Ich sagte ’na klar‘ und als wir wieder drin waren, versorgte er uns mit zwei frischen Bieren, denn von den ‚Zwei-für-eins-Getränke-Gutscheinen‘ waren noch jede Menge übrig. So schnell konnten wir gar nicht bechern, als dass die zu Ende gingen. Und so nahm der regnerische Tag einen überraschend angenehmen Verlauf. Die Dänen kassierten für jeden Halt vier mal zollfreie Kippen und wir zwei frische Pils oder Schnaps oder was auch immer die Jungs so anbrachten und weil unsere paar Mark auch noch zum Essen reichten, setzten wir uns schließlich zu unseren neuen Freunden, gönnten uns gemeinsam eine Nahrungsgrundlage und irgendwann am Nachmittag, schon jeweils acht mal in Flensburg und Kollund angelandet, beschloss ich, dass wir jetzt besoffen genug waren, um zu fahren. Natalia lallte irgendwas zurück und wir hoben nochmal unser Glas, lobten diesen wunderbaren Kutter für seine Gastfreundschaft, umarmten die ganze Mannschaft samt Bedienung und sahen zu, dass wir rauskamen. Draußen schwankte alles um uns rum, selbst als wir schon auf dem Rad saßen. Warm und satt und in großzügigen Kurven schafften wir es dann zurück, wo wir uns schon am frühen Abend ein ausgiebiges Schläfchen bis zum nächsten Morgen gönnten.

Wenn ich heute an Flensburg zurück denke, dann ist dieser Tag und mit etwas Abstand dahinter der Biertest in der Campingplatz-Küche das Lebendigste, was mir in Erinnerung von der nördlichsten Stadt Deutschlands blieb. In diesem Sinne; lasst es Euch gut gehen. Skål !

*
*
*
*************
*

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert