Unentschieden

(Hit the road, Buchhalter! (5))

Hier geht es zum ersten Teil!

Hier geht es zum zweiten Teil!

Hier geht es zum dritten Teil!

Hier geht es zum vierten Teil!

Wir standen auf der Rue La Fayette in Richtung Poissoniére in der Rush Hour und nichts ging mehr. In unserem Kadett bewegten wir uns im Pariser Berufsverkehr seit Minuten schon keinen Meter mehr vorwärts. Der Buchhalter überbrückte die Zeit damit, seine Fähigkeiten im Bau perfekter Dreiblatt-Spliffs zu verbessern. Ich beobachtete ihn dabei, wie er gerade den Winkel zwei zueinander stehender Zigarettenblättchen maß, indem er sie auf der Zeitungsunterlage an den Überschriften ausrichtete. Im Radio lief das übliche Gequatsche, denn die Franzosen hatten immer schon eine Vorliebe dafür, den Radiohörern statt Musik endlose Debatten aufzuzwingen. Gerade schien es um die Öffnungszeiten der Museen zu gehen und einer der Diskutierenden vertrat die radikale Ansicht, alle Galerien und Kunsthäuser sollten rund um die Uhr verfügbar sein. Er bekomme immer nachts Lust auf Kultur, weil seine Schaulust in unmittelbarem Zusammenhang mit seiner Libido stehe. Das leuchtete mir ein. „Wenn wir morgen nach Hause kommen, müssen wir die Katze füttern“, sagte der Buchhalter. Der Regen, der seit einer guten Stunde eingesetzt hatte, plätscherte gleichmäßig und unablässig hörbar aufs Autodach und gab dem ganzen eine zusätzliche Note gelangweilten Wartens auf überhaupt nichts. Wir fuhren über den Boulevard de Magenta zurück ins Hotel am Gare de l'Est, weil wir genau diesem Stop'N'Go, das nun seit gut zehn Minuten schon ein einziges Stop bedeutete, aus dem Weg gehen und in die Metro umsteigen wollten. Den Nachmittag hatten wir in La Valette verbracht, dem damals neu eröffneten Park der Wissenschaften mit einem der ersten Kugelkinos und nach dieser doch mehr intellektuellen Zerstreuung war uns danach, den Abend in einem der angesagten Ausgehvierteln der Stadt zu verbringen, indem wir die Eindrücke rundum einfach auf uns einwirken lassen, während wir durch die Straßen laufen und den Trubel rundum beobachten. Das machten wir ausgesprochen gerne.

Erst am Tag zuvor entdeckten wir eine wunderbare Stelle an der Péripherique, von der aus wir den sich einfädelnden Verkehr auf dem Autobahnring beobachten konnten. Zu der Zeit hatten die französischen Wagen alle noch diese gelben Abblendlichter und solange nur Gelblichter die Auffahrt nutzten, funktionierte das Einfädeln tadellos. Sobald die ersten weißen Lichter auftauchten, was in der Regel deutsche Autofahrer waren, entstand ein kleines Chaos, weil es einfach einen zu großen Mut erforderte, in diesem Tempo Stoßstange an Stoßstange auf die Schnellstraße einzubiegen. Kaum hatte sich der Knoten aufgelöst und der Verkehr floss wieder gelblichtig, kam die nächste Touristenkarre und es ging wieder von vorne los. Wir hatten jedenfalls unseren Spaß daran. Darüber dachte ich gerade nach, als mir die ganze Steherei auf der Fayette langsam zuviel wurde. Der Buchhalter hatte die Kegeltüte endlich rauchfertig und reichte sie mit einigem Stolz zu mir rüber und ich musste zugeben, dass sich seine Fähigkeiten im Roll- und Drehgeschäft inzwischen sehen lassen konnten, während ich das fertige Werk betrachtete. Der erste Zug war immer was besonderes und der Buchhalter überließ ihn mir, weil er spürte, dass meine Nerven von der ständigen Warterei am Ende waren. Ich entzündete das Ding mit der Riesenflamme unseres dafür präparierten Zippos und nahm einen tiefen Zug, der mich augenblicklich in höchste Euphorie versetzte, weil ich an den Abschlussabend unseres Pariser Wochenendes dachte und gleichzeitig spürte, dass uns die verbleibende Zeit wie brennendes Wachs zerfloss, als ob uns jemand daran hindern wollte, den Abend angemessen zu verbringen.

Ich reichte den Joint zum Buchhalter zurück und demonstrierte, durchflutet vom Reiz des ersten Flashs, sofortige Entschlossenheit, setzte den Wagen bis zur Stoßstange des Nachfolgenden zurück und scherte über den durchgezogenen Mittelstreifen nach links aus, um gegenüber in die kleine Gasse einzubiegen, auch wenn sie eine Einbahnstraße entgegen unserer Richtung war – Hauptsache wir bewegen uns endlich aus dieser Ödnis der Standhaftigkeit raus. Zudem wäre es der direkte Weg zum Hotel gewesen und aus der Gasse kam eh schon seit Minuten keiner mehr raus. Wir waren schließlich in Paris, wo jeder Verkehrsteilnehmer ständig mit allem rechnen musste, um zu überleben. Nun, womit wir selbst nicht rechneten, war der unmittelbar auf die Entschlossenheit folgende, ohrenbetäubende und fürchterlich heftige Knall. Trotz der natürlichen und drogentechnisch unbeeinflussten Reaktion, dem Beifahrer augenblicklich auf den Schoß zu springen, sah ich aus dem Augenwinkel noch, wie sich das metallene Etwas an meiner Fahrerseite des Kadetts aufbäumte und abdrehte, bevor der Lärm des Aufpralls, den wir beide mehrmals wie im Echo hörten, langsam verklang. Ich schaute den Buchhalter entgeistert an, als ob die mir eben überreichte Tüte diesen Effekt ausgelöst hätte, während der Buchhalter mich anschaute, als ob er überrascht davon wäre, dass die mir überreichte Tüte solch einen Effekt auslöste. Dann dauerte es einige Sekunden, bis wir realisierten, was gerade geschehen war.

Genau in dem Augenblick, indem ich nach links einschlug und Gas in Richtung Einbahnstraße gab, um die doppelt durchgezogene Mittellinie zu überqueren, versuchte ein Motorradfahrer in unserer Richtung fahrend, unsere stehende Wagenkolonne auf der Gegenfahrbahn zu überholen und die beiden Richtungswünsche waren einfach nicht kompatibel zueinander. Der Zweiradfahrer schlitterte nach dem Knall über den Asphalt, immer seiner Maschine nach, und lag zunächst kurz reglos auf der gegenüberliegenden Seite, stand aber wie unter Schock sofort wieder auf, drückte das Motorrad auf den Gehsteig und klopfte sich erstmal die Klamotten sauber. Ich stieg aus und betrachtete mir den Schaden. Eine riesige Beule vom Ausmaß eines Granatentrichters hatte sich durch den unfreiwilligen Kontakt in die Fahrerseite des Kadetts gedrückt. Trotzdem schien die Tür ohne weiteres ihren Dienst zu tun. Ich ging zum unbekannten Koproduzenten des Unfalls rüber und fragte ihn, ob alles in Ordnung sei, worauf er sich deutlich beschwerte, dass hier links abbiegen verboten sei, worauf ich mich deutlich beschwerte, dass Überholen im Gegenverkehr nicht nur hier verboten sei. Dann fragte er mich, ob bei uns alles in Ordnung sei. Wir schauten uns den Schaden am Wagen von seiner Gehwegseite aus an. Ich sagte ihm, dass das eine alte Karre sei und wir darüber hinweg kommen würden. Er drehte sich zum Motorrad, trat den Kickstarter vier, fünf mal an und schon tuckerte die Kiste wieder. Nur der Auspuff sah ramponiert aus. Er rieb sich das Knie nochmals vor Schmerz, zog sich den Helm über, hob die Hand zum Gruß, ich hob zurück, er stieg auf und sah zu, dass er wegkam.

Ich sah ihm nach, kehrte zurück zum Kadett, stieg ein und testete die Fensterscheibe, indem ich sie langsam runterkurbelte. Schien zu halten. Dann steuerte ich den Wagen den geplanten Weg entgegen der Einbahnstraße lang, weil es sich in diesem Moment richtig anfühlte, nach der ohnehin erfahrenen Strafe den Weg fortzusetzen. Es gab mir ein Gefühl der Zuverlässigkeit, ganz egal was passiert, dass der Buchhalter nach wie vor ungerührt auf seinem Platz saß und sein formschönes Werk währenddessen fast ganz alleine erledigt hatte. Ich nahm mir den Rest und zog die Asche bis zum Filter, um den Stummel durch das geöffnete Fenster zu entsorgen. Auf der Kreuzungsecke sah ich einen Verkehrspolizisten stehen, der sich die komplette Szene offensichtlich in aller Ruhe betrachtet hatte, um zu verfolgen, ob wir uns auf Unentschieden einigen. Auf diese Art und Weise brauchte er nicht einzugreifen, solange ihn niemand dazu aufforderte. Dass es kurzfristig nach Totalschaden aussah, schien ihn nicht zu interessieren. Diese professionelle Einstellung gefiel mir außerordentlich, was meine Laune trotz des Crashs merklich aufhellte, aber auch, weil der Joint wirklich verdammt gut war. „Morgen müssen wir die Katze füttern“, sagte der Buchhalter.

 

 

 

 

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