Prinzessin Esther

In der Regel strandeten wir nachts in den Kinosesseln bei Charly im Jazzkeller. Es war eines der Auffang-Siffons im Nachtleben. Saarbrücken hatte davon nicht sehr viele. Da war das Kater Carlo, die Bar im Hotel Continental, das Hinkelsnest und zwei Tanzschuppen für einsame Herzen, auf die man sich nicht verlassen konnte. Weiter draußen gab es noch einen Rockschuppen. Aber das wars dann. Schuld daran war die Sperrstunde um Eins, zu der alle Kneipen offiziell schließen mussten. In den guten Kneipen, denen mit Herz und Seele, da hielt sich keiner dran, aber spätestens um Zwei kehrten sie uns doch vor die Tür. Dann zogen wir weiter in den Jazzkeller Gießkanne, wo der treue Charly jede Nacht das gute Becker-Bier in die Krüge füllte, Schmalzbrote zu einer Mark Fünfzig schmierte und die Jazzplatten auflegte – falls kein Livekonzert war. Manchmal ergaben sich auch spontane Jam-Sessions an Klavier, Klarinette und Schlagzeug und ich begann, mich für allerlei Jazz-Stile zu interessieren. Außerdem waren die Sessel sehr bequem, es gab ein Schachspiel und es gab jede Menge schräger Nachtvögel – so wie ich selbst einer war. Wenn Charly um Drei oder Vier zumachte, dann zog die Gemeinde weiter ins Hinkelsnest. Dort gab es die besten Brathähnchen der Stadt. Und wer dann noch Kondition hatte, wanderte weiter ins Karlsberg-Eck, das um Fünf aufmachte, weil die Hüttenwerke nebenan um Sechs Uhr Schichtwechsel hatten.

Na jedenfalls, was ich eigentlich erzählen wollte, handelt von einer zauberhaften Prinzessin namens Esther, die ich aufgrund meiner Vorlieben für nächtliche Streifzüge zwangsweise kennenlernen musste, genau so wie das Kater Carlo, die Bar im Continental oder das Hinkelsnest und die anderen schrägen Vögel. Sie war die Tochter eines Bäckers, ein echter Handwerker mit Bäckermütze und Latzhose, der wie die dicke Wirtin vom Karlsberg-Eck schon vor Fünf die Türen aufschloss, damit das Proletariat und das nach Hause ziehende Nachtvolk seine Brötchen kaufen konnte. Ab kurz nach Vier standen die Wartenden Schlange, um sich mit Brezeln und Croissants, Käsebrötchen und Doppelweck fürs Frühstück zu versorgen. Es duftete so wunderbar nach frischem Backwerk und ich kannte keinen anderen Laden, in dem so früh am Morgen schon so viel los war. Das lag natürlich an den frischen und noch warmen Backwaren, an der riesigen Auswahl, die es so schwer machte, sich zu entscheiden, und – an Prinzessin Esther.

Der Verkaufsraum war jeden Morgen zu dieser frühen Stunde schon knackevoll und man musste einerseits schon genau wissen, was man wollte und sich andererseits immer ein bisschen näher an die Theke drängeln, damit man überhaupt dran kam. Ich hatte es nie sehr eilig. Das lag an der Prinzessin, die morgens noch voll verschlafen war, weil sie mit ihren vielleicht 25 Jahren selber feiern war und nach wenigen Stunden wieder aus den Federn musste, um in der Bäckerei zu helfen. Während der Bäcker und seine Frau voll am Rotieren waren und hinter der langgezogenen, um die Ecke gehenden Theke hin und her wetzten, stand die hübsche Esther in der Backstube und füllte die Regale nach. Sie machte sich gar nicht erst die Mühe, sich was anderes anzuziehen oder irgendwie ausgeschlafen auszusehen in ihrem Teddy-Baumwoll-Frottee-Schlafanzug, weil sie ja ohnehin wieder ins Bett zurück huschte, wenn die Rush Hour vorbei war. Vermutlich war es dann sogar noch schön restwarm unter der Bettdecke. Der Bäcker wohnte nämlich in der Etage über der Bäckerei und seine süße Tochter schälte sich nur kurz aus dem Bett raus und half ihren Eltern gerade noch so, wie sie es in den Verkaufsraum schaffte.

„EEESTHEEER“ rief der Alte dann in die Backstube, „bring noch mehr von den Milchbrötchen“ oder „EEESTHEEER“, komm her und hilf Deiner Mutter an der Kasse!“ oder hilf dort und mach dies, bring jenes oder hol das. Und Esther brachte und half und holte alles in einem aufreizend langsamen Tempo. Ihr langes, lockiges, dunkelbraunes Haar ruhte auf ihren Schultern und ihre Haarspitzen hingen ihr von der Stirn wie arrangiert immer im Blickfeld rum, so dass man nie genau wusste, ob sie überhaupt irgendwas sah oder alles im Weiterschlafen erledigte. Okay, es mag auch ein bisschen am Restalkohol aus Charlies Bierkrügen gelegen haben, aber ich freute mich immer wie Bolle, wenn ich ihr beim Schlafwandeln zusehen durfte. Manchmal wartete ich vor der Bäckerei und ließ erst mal alle anderen vor, schaute mir in der Auslage die Croissants und Brote an, heuchelte Interesse an den Brezeln und Hefezöpfen, aber im Grunde wartete ich nur darauf, dass Esther auf der Bühne erschien. Sie war eine Göttin für mich, wie eine Erscheinung aus einem Märchen. Die beiden Schlafanzüge, die sie abwechselnd trug, manchmal den dunkelblauen mit den grauen Streifen und manchmal den roten mit den Blümchen am Hintern, schmeichelten ihren Kurven und außerdem zeichneten sich ihre Brüste unterm Oberteil sehr detailgetreu ab. Und natürlich war ich nicht der Einzige, der sich die Dinger betrachtete.

Ich fragte mich jedes Mal, wie die beiden schrägen Alten es hingekriegt hatten, dieses schöne Wesen zu produzieren. Die auffallend vielen Männer kamen nur wegen ihr. Ich hätte sie zu gerne angesprochen, aber es war einfach nie drin und ich traute mich auch gar nicht. Zum einen war sie viel zu verschlafen, zum anderen war ich so von ihr entzückt, dass ich fürchtete, sie damit zu vertreiben. Ein oder zwei Mal hatte ich das Glück, bei ihr an der Kasse zu bezahlen und dann stand sie da und versuchte ganz tapfer, sich aufs Münzenzählen zu konzentrieren, während ich sie bewunderte. Wenn mich nicht der Blitzschlag des Verliebten getroffen hätte, hätte ich ihr statt dem Dankeschön fürs Restgeld beinahe einen Heiratsantrag gemacht. Der Alte schien das auch genau zu wissen, dass die ganzen Kerle auf sie abfuhren. Mürrisch zog er die Mundwinkel nach unten und sah für einen kurzen Augenblick wie Freddy Krüger aus, wenn wieder einer mit seiner Tochter flirtete. Aber er wusste auch ganz genau, dass seine zur Bäckerei-Aushilfe nur bedingt geeignete Tochter für den halben Tagesumsatz sorgte, wenn sie mit ihrem süßen Arsch durch den Verkaufsraum schlingerte.

Nunja, eines Tages begann ich diesen Job in der Fabrik und vor der Frühschicht dort einzukaufen blieb für lange Zeit das Highlight des Arbeitstages, aber dann musste ich auch Mittags-Schichten fahren, in denen ich sie gar nicht sah und wenn ich nach den Nacht-Schichten erst um kurz vor Sieben dort ankam, war Esther längst wieder in den Federn und die Show war vorbei. Dann blieb mir nur die Fantasie, sie in ihrem warmen Bettchen zu besuchen und endlich meinen märchenhaften Heiratsantrag loszuwerden. Später musste ich dann wieder was ganz anderes arbeiten und da ich erst um Neun begann, war es illusorisch, nur wegen Esther um Fünf Brötchen zu kaufen. Die vage Hoffnung auf ein hingehauchtes „JA, ich will“, wurde mir dann doch zu unsicher. Ich hätte zu gerne gewusst, was aus meiner Prinzessin wurde, denn Jahre später schloss die Backstube überraschend für immer und als ich zuletzt drin war, morgens um Acht oder so, war von ihr natürlich wieder keine Spur. Ach, diese Jobs. Sie versauen einem aber auch wirklich alles. Den Jazz, das gute Becker-Bier, die besten Brathähnchen der Stadt und schließlich auch die Traumhochzeit.
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