Fünfzig Prozent

Während ich mich eigentlich nur auf die Schulbank setzte, um diesen Abiturschein nachzuholen, hatte ich kaum Zeit, dort überhaupt aufzutauchen. Drei Jahre lang sollte ich jetzt wieder in der Schulbank sitzen und ich versuchte mich dran zu erinnern, wie ich früher ums Pauken drum herum gekommen bin. Das Dilemma bestand darin, dass ich keine Zeit dazu hatte, genau die Zeit zu finanzieren, in der ich in der Schule war. Ich brauchte einen Plan. Und musste möglichst viel Geld in Gelegenheitsjobs zu verdienen, ohne die Höchstanzahl an Fehlzeiten zu überschreiten, die bei ziemlich genau 50% lag. Es war genau wie in den anderen Schulen. Es gab montags bis freitags Unterricht von kurz vor Acht bis mittags um Zwei, es gab Schulferien und es gab halbjährlich Schulzeugnisse, mit Noten und Konferenzen und unten gab es sogar einen Kiosk, wo wir uns Frühstück und Süßigkeiten kaufen konnten. Genau wie früher. Nur dass in der Klasse fünfundzwanzig Erwachsene saßen oder solche, die es werden wollten. Mein Plan sah außerdem vor, im Unterricht Interesse zu heucheln, bei den Arbeiten möglichst gut zu bescheißen und eine geile Zeit zu haben. Mich interessierte es immer noch nicht, wie Hyperbel und Parabel zu berechnen sind oder was ein umgedrehtes Saftglas über einer Kerze in einem tiefen Teller Wasser mit der Flamme macht. Oder wie die homologe Reihe der Alkane in Strukturformeln aussehen. Ich hatte diesen ganzen Scheiß mein Leben lang nicht gebraucht und würde es auch in Zukunft nicht brauchen – soviel war sicher. Wenn Ihr mich fragt, was im Mathematikunterricht das Wichtigste ist, dann sage ich Euch: Lernt Dreisatz und Prozentrechnen und Ihr kommt damit prima durchs Leben. Alles andere ist Zeitverschwendung, wenn Ihr keine Physiker werden wollt.

Mein erster Job bestand darin, kleine Frachtmengen einer Spedition durch Deutschland zu karren. Dazu musste ich frühmorgens dort sein, über den Frachtschein die Waren abholen und das Zeugs dann irgendwo wieder loswerden. Dortmund, Essen, Lübeck, München… ich sah das Frankfurter Kreuz häufiger als meine Matratze zuhause. Das Problem war eben nur, dass ich auch keinen Schulunterricht sah, während ich mich mit manipulierten Tachoscheiben beschäftigte und mit Gabelstaplerfahrern stritt. Nach einer Zeit reichte es wieder mit der Kohle und sie sahen mich in der Schule wieder häufiger. Ganz gerne saß ich im Deutschunterricht, weil ich dort was Intellektuelles loswurde. Ich mochte es, über Literatur zu reden oder philosophisch zu werden – schließlich hatte ich mit ordentlich hitzigen Diskussionen gute Erfahrungen gemacht, damals in den dunklen Nächten, als mir das Gras die Sinne vernebelte und es nie zu viel zum Trinken gab. Dann sah ich diese Anzeige in der Zeitung, in der zu lesen war, dass man als Detektiv sehr gut verdienen kann. Ich rief an und sagte denen, dass ich mich mit dem Klauen ganz gut auskenne und das reichte auch schon, um mich einzustellen. Jetzt stritt ich mich mit Kaufhausdieben und beschäftigte mich mit der Warenpalette vom Baumarkt. Bald schon wurde mir klar, dass ich selbst unter Mathelehrern schneller Freunde finden würde. Aber drei- oder vierhundert Mark brachten mich bis zum Monatsende.

Auch der Musikunterricht war immer richtig gut. Wir hörten uns Musik an und sprachen darüber. Wir lernten Noten, wie sich Orchester zusammensetzten, welche Techniken die großen Dirigenten einsetzten und wie Mozart und Co komponierten. In den Klassenarbeiten spielte der Lehrer immer irgendwas ab, beispielsweise was von Miles Davis oder auch was von Beethoven und wir mussten beschreiben, was wir hörten. Und dann legte ich los, schrieb über Dynamik, Tempo, Instrumente, Einsatz, Takt und Fantasie was das Zeug hielt und wenn die Unterrichtsstunde vorbei war, hatte ich mehrere dicht von Hand beschriebene Seiten vor mir liegen und ich glaube fast, er hat das ganze Zeugs gar nicht gelesen und die volle Punktzahl einfach so notiert. Aber außerhalb von Deutsch, Musik und den Fremdsprachen sah man mich fast nie. An den nächsten Job kam ich, weil ich einen DJ kennenlernte, mit dem ich über Musik fachsimpeln konnte. Immerhin hatte ich eine stattliche Sammlung an CDs zuhause und der Typ meinte dann, ich könne ja auch mal im Club auflegen. Nunja, Club war übertrieben. Es war mehr so eine Art Erlebniskneipe, in der die Geschäftsstrategie drauf abzielte, möglichst viel von einem klebrigen Pflaumenlikör unter die Gäste zu schaffen. Aber es war ein richtig gut bezahlter Job. Wenn der Umsatz stimmte, kriegte ich davon auch noch was ab und in manchen Nächten kam ich mit zweihundert Mark nach Hause. Das Problem bei diesem Job bestand nur darin, dass ich während der Unterrichtszeit schlafen musste.

Da es keine Eltern mehr brauchte, die irgendwelche Entschuldigungen schrieben, konnten wir selbst entscheiden, wann wir kamen und gingen. Aber es war einfach keine gute Entscheidung, bis mittags auszuschlafen und dann zum Schulschluss im Biologie-Unterricht aufzutauchen, wo ich feststellte, dass ich den Lehrer noch nie gesehen hatte. Er behauptete, schon das ganze Jahr über hier zu sein, aber er hatte mich natürlich auch noch nie kennengelernt. Es stellte sich heraus, dass ich in der einzig anderen Stunde, in der ich im Bio-Unterricht war, mit seiner Vertretung zu tun hatte. Aber es stellte sich außerdem heraus, dass er ein richtig netter Kerl war, als ich zur Abiprüfung zugelassen wurde. Ich musste unbedingt vier Punkte im Mündlichen erreichen und als der Prüfer mich nach den Gänsen von Konrad Lorenz befragte, war mir schon klar, dass das ein realistisches Thema für Biologie war – allein; ich hatte davon noch nie gehört. Der nette Lehrer fragte mich, welches Thema mir am meisten lag und weil ich mir den Stoff über die Genetik gerne durchgelesen hatte, unterhielten wir uns dominante und rezessive Gene und ich hatte die vier Punkte eingepackt.

Der beste Job während des Gymnasiums, das sich wegen der Erwachsenenbildung vornehm Kolleg nannte, war die Ghostwriter-Sache. Die Zeitungsanzeige las sich so schräg, dass ich unbedingt wissen wollte, was dahinter steckte. Es ging darum, Friedhofsreden zur Beerdigung oder Hochzeitsreden zu schreiben oder zu anderen Festlichkeiten kräftig abzusalmen und da war ich richtig gut drin. Ich kriegte die Eckdaten, Namen und ein paar Fakten über die Feiernden oder die Verstorbenen und dann erfand ich eine schöne Geschichte drum herum. Zwar kostete auch das einiges an Zeit, aber die konnte ich mir wenigstens selbst einteilen. Das half mir über die zwölfte Klasse hinweg. Das – und weil ich in der entscheidenden Mathearbeit des Jahres neben Simon saß. Ich hatte nie verstanden, wieso der Lehrer nicht skeptisch wurde, nachdem ich drei mal irgendwas zwischen null und fünf Punkten produzierte und mit diesen dreizehn Punkten nicht nur die beste Klassenarbeit direkt hinter Simon schaffte, sondern auch versetzt wurde.

Und als ich schließlich den Schein hatte, für den ich drei Jahre ins Kolleg latschte, entschied ich mich ausgerechnet für Slawistik, weil ich Sprachen so mochte und schrieb mich an der Uni fürs Propädeutikum in einem Russisch-Intensiv-Sprachkurs ein. Und während ich dafür paukte und feststellte, dass es richtig harte Arbeit war, machten die anderen sich nen feinen Lenz, weil wir Anfang der Neunziger waren und im Kurs fast ausschließlich Bulgaren, Rumänen und Polen saßen, für die Russisch nun wirklich nichts Neues war. Die sollten ihren Schein kriegen, soviel war sicher. Ich aber mühte mich ab mit den sechsunddreißig Buchstaben und den sechs russischen Fällen der Grammatik, von denen einer das Präpositional war. Dann lernte ich einen kennen, der ne gute Idee hatte, um sich selbständig zu machen und das schien mir doch weitaus attraktiver, als für etwas lernen zu müssen, dass die anderen mit 50% der Zeit schafften. Und das ist eigentlich auch schon die Moral dieser Geschichte, falls Ihr es noch nicht gemerkt habt.

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