Das mit dem Studieren und so

Weil ich Schule nicht verstand und ich sowieso kaum was dafür tat, war es die logische Konsequenz, nach dem Realschulabschluss erst mal was anderes zu machen. Wie so viele meines Jahrgangs war ich völlig orientierungslos. Ich organisierte mir einen Termin auf dem Arbeitsamt und führte mit dreißig anderen im Raum einen Orientierungstest durch, in dem uns völlig bescheuerte Aufgaben gestellt wurden. Irgendwer hatte diesen Mist entwickelt und sich damit einen goldenen Schuh verdient – aber mir half es nicht weiter. Nach dem Test sagten sie mir, ich könne ganz gut „was Kaufmännisches“ machen. Wenn ich heute davon erzähle, dann oft mit einem gewissen Bedauern über alles, was ich beruflich hätte machen können, aber eben nicht gemacht habe. Bundestrainer, Bundeskanzler, bunter Hund… Stattdessen begab ich mich in die Mühlen eines Berufs, den ich nicht wollte und oft genug auch gar nicht verstand. Aber wie bei allem was ich im Leben machen musste, weil man es von mir erwartete, brachte ich es zu Ende – und zwar noch gerade so, dass man mir den Schein nicht versagte. Weil ich auch nichts dafür tat.

Als ich die Lehre hinter mir hatte, waren die meisten meiner Freunde am Studieren. Und wenn wir nachts in den Kneipen saßen und intellektuelle Diskussionen über Gott und die Welt führten, fühlte ich mich herausgefordert. Ich wollte nicht, dass mich meine Freunde wegen meiner fehlenden Bildung ignorierten. Wahrscheinlich fraß ich deswegen alles in mich rein, was ich an Wissen kriegen konnte, um mitzuhalten – oder es besser zu wissen. Da ich täglich eine Tageszeitung und wöchentlich den SPIEGEL las – und zwar von der ersten bis zur letzten Seite – war ich stets up-to-date und konnte in jedem Gespräch mithalten. In den ganzen politischen Talks sowieso, da konnte kaum einer mithalten. Und wenn es dann immer noch was gab, was die anderen besser wussten, ganz einfach weil sie es studierten, dann versuchte ich das auszugleichen, indem ich mir in der Bibliothek Wissenswertes darüber anlas. Wenn das Thema dann beim nächsten Mal wieder dran war, war ich in der Pole Position und gab philosophierend zum besten, was der Stand der Dinge war. Das Gefühl jedenfalls, durch einen fehlenden Schulabschluss mit den anderen nicht mithalten zu können, war mir unerträglich, aber statt mein Leben zu ändern und den gleichen Weg zu gehen, ließ ich sie spüren, dass sie mit dem selben Wasser kochen.

Dann begann ich damit, mich dem Studium einer beachtlichen Menge von Drogen zu widmen. Möglicherweise, weil ich in etwas ganz besonders gut sein wollte. Das brachte einiges an Veränderung in meinem Leben. Die Freunde wechselten. Sie kamen und gingen jetzt viel häufiger bis es auf einmal so viele wurden, dass ich selbst den Überblick verlor, kurz bevor auch mein Verstand folgte. Und als ich vom ganz großen Trip durch die Wunderwelt der Halluzinogene wieder aufwachte, hatte ich nicht nur keine intellektuellen Freunde, sondern überhaupt keine mehr. Es war einfach alles weg. Ich suhlte mich eine Weile in meiner Depression. Dann beschloss ich aus Langweile, wenigstens das Abitur nachzuholen und setzte mich für volle drei Jahre zurück auf die Schulbank. Das heißt, eigentlich nur zu zwei Drittel der Zeit, weil das mindestens die Quote war, die zum Erreichen des Scheins vorgeschrieben war. Den Rest der Zeit verbrachte ich mit Jobs, die mich über Wasser hielten, kassierte eine Art von BaföG und als ich es mit der mir üblichen Mindestleistung zu Ende brachte, dachte ich mir, jetzt kannst du auch noch ein bisschen weiter machen und schrieb mich an der Uni ein.

Ich ging nicht davon aus, dass sich das Leben im Vergleich zur Schule ändern würde, weil ich keine Ahnung von dem hatte, was von mir erwartet wurde. Die Idee war, mit diesen schrägen Jobs weiter zu machen und ab und zu, aber nur wenn ich dazu Lust und Zeit hätte, was zu lernen. Und irgendwann würde ich den nächsten Schein kassieren, auf dem dann was neues steht. Und dann mal weiter sehen. Das war der Plan. Ich ging zur Studienberatung, aber die wollten erst mal wissen, was ich studieren will und ich sagte: „Ich dachte, das sagt Ihr mir vielleicht“. Weil sie offensichtlich eine klügere Antwort erwartet hatten, entschied ich mich aus dem Stand heraus für Sprachwissenschaften, was noch eine ganz kluge Entscheidung gewesen wäre, aber weil mir das zu allgemein war und ich in Fremdsprachen schon was drauf hatte, posaunte ich „Slawistik“ über den Schreibtisch. Diese ganzen Sprachen östlich von uns klangen mir immer schon ziemlich lustig. Ich dachte allerdings eher daran, in Moskau fehlerfrei zwei Bier und eine Soljanka zu bestellen. Außerdem sagten sie mir in der Schule immer, ich sei sprachbegabt und das war wohl der Punkt, an dem ich es selbst glaubte, was sich als folgenschwerer Irrtum raus stellte.

Es war Anfang der Neunziger und es gab in diesem Propädeutikum komischer Weise nur Polen, Jugoslawen, Russen oder andere Studenten slawischer Völker und ich dachte mir: Was soll das? Die können das doch eh alle schon. Ich hingegen mühte mich in den sechs Fällen der russischen Sprache, den sechsunddreißig merkwürdigen Buchstaben und der seltsamen Schriftsprache und nachdem ich das mit dem Bier und der Soljanka drauf hatte, wurde es mir zu mühsam und ich gab es wieder auf. Das Kneipenleben hatte mich endlich wieder. Ich nutzte das Bafög, um mir einen Lieferservice aufzubauen und die Uni, um die nervigen Fragen meines Vaters zu kontern, die ich von nun an mit „ich studiere“ beantwortete. Wobei freilich auch das Kneipenstudium ein mühsames ist. Weil es eine kleine Stadt war, war es auf Dauer unvermeidlich, manche meiner intellektuellen Freunde wieder zu treffen, die inzwischen entweder in ihre hochdotierten Jobs eingestiegen waren oder aus anderen Motiven als den meinen mit dem Studieren brachen. Meistens war es was mit Kindern. Irgendwie kam es mir vor, als ob jetzt alle etwas gelassener mit ihren Lebensplänen umgingen. Seltsam. Als ob sie sich mehr an mir orientierten, als ich an ihnen. Aber das konnte ich mir freilich auch einbilden.

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