Zehn Monate vor elf Jahren

Dresden im Januar 2008. Da lag ein verdammt großer Haufen Arbeit.

Ich karrte meinen ganzen Besitz quer durch Deutschland, suchte mir eine Bleibe, zog ein und legte mit dem Schreiben los. Ein Parteifreund des Bürgermeisters hatte das Sagen. Vom Schach verstand er nichts. Als erste Handlung stellte er seinen Freund ein, der von irgendwas eine Ahnung hatte, aber mir will bis heute nicht mehr einfallen, was es war. Schach war es jedenfalls nicht. Der sollte das Marketing erledigen und kassierte auch das meiste vom Geld. Außer mir gab es noch genau einen einzigen im Team, der was vom Schach verstand und der auch glänzend vernetzt war, aber offiziell nichts dazu verdienen durfte. Später halfen zwei, drei kurzfristig angestellte Bürokräfte aus. Volontäre, die meiner Erinnerung nach mit Ausnahme einer kläglichen Versorgung nichts erhielten, erledigten zum Turnier allerlei Hilfsarbeiten. Wir hätten es ohne sie nicht geschafft. Den Rest übernahm der Zufall.

In weniger als zehn Monaten sollten über 1200 Spieler aus 141 Nationen untergebracht werden. Es würde sich eine dreistellige Zahl an Journalisten akkreditieren. Pressekonferenzen, Veranstaltungen, Werbetouren, Gewinnspiele mussten organisiert werden. Wir hatten noch keine Turnierzeitschrift, Newsletter, Kampagnen, Mailings. Die Internetseite des Turniers musste aufgebaut und mit Inhalten versorgt werden. Pressemitteilungen und journalistische Artikel für die Tageszeitungen geschrieben werden. Die Fachzeitschriften und Schachseiten im Netz gefüttert werden. Die ganze internationale Schachwelt wartete auf Nachrichten. Kommentatoren und Live-Übertragungen fehlten und sich mit den Schachverbänden über Wünsche, Tantiemen und Verbandsbürokratie zu einigen, war kein Vergnügen.

Ich schrieb Einladungen, Reportagen, erstellte PowerPoints, füllte Zeitschriften und lud die Journalisten aus aller Welt ein, moderierte Simultanschachauftritte, interviewte Promis, band die Sponsoren ein, verteilte Akkreditierungen, versorgte die Landesverbände, den Schachbund, die FIDE und beantwortete rund um die Uhr allerlei Mails zum Ablauf der Veranstaltung. Für die Oberbürgermeisterin und den Sportbürgermeister schrieb ich Dutzende von Grußworten und Reden. In diesem Tempo ging es bis zum Start des Turniers. Radio- und TV-Sender kamen ins Spiel. Interviews zu Mannschaften, Aufstellungen, Teilnahmen, dem Spiel im Allgemeinen und der Schacholympiade im Besonderen wurden geführt, beantwortet, beschrieben. Kurz vorm Start zog ich die Reißleine und durfte einen Schachjournalisten nachordern, weil auch dem Letzten einleuchtete, dass einer allein nicht alles schreiben kann. Kurz vorm Start bauten wir das Pressezentrum auf.

Dann kamen die beiden Turnierwochen.

Das Pressezentrum zu leiten, fraß die letzten Reserven. Ich kümmerte mich um die Journalisten, organisierte und moderierte Pressekonferenzen, sorgte für die Fotos des Veranstalters und wurde von allerlei Leuten immerzu zugetextet. Live-Kommentare mussten betreut werden. Plötzlich war auch das Beschwerdemanagement meine Aufgabe. Jeder wollte irgendwas anderes und ich lief zweitweise mit vier Telefonen durchs Haus, die oft genug alle zugleich klingelten. Telefonate in Sprachen, die ich nicht verstand, drückte ich einem Volontär in die Hand, der sich dann auf die Suche nach Übersetzern machte. Ich aß, wenn ich irgendwann dran dachte. Manchmal vergaß ich es einfach, was mir erst zuhause vorm Schlafengehen auffiel. Die ersten drei Tage herrschte ein solch unfassbarer Druck, dass ich es nicht mal bis in den Spielsaal schaffte. Für die Moderation der Pressekonferenzen am Abend engagierten wir eine Großmeisterin, aber für die Nachmittags-PK musste ich selbst ran. Mir blieben in der Regel weniger als fünf Minuten zur Vorbereitung, selbst die Fragen an den kommenden Weltmeister zog ich mir während der Moderation aus den Fingern.

Abends schrieben wir das Bulletin und die Turnierzeitschrift. Kurz vor Mitternacht fuhr ich ins Rathaus, um dort den Mitternachts-Talk mit eingeladenen Teilnehmern zu führen. Ich war null vorbereitet, wer da saß und warum. Dazu blieb einfach keine Zeit. Also improvisierte ich wieder und dachte mir spontan irgendwelche Fragen aus, die ich ins Englische übersetzte. Das ging mit manchen Gästen ohne Weiteres. Mit anderen war es eine Qual, vor allem mit den wortkargen Typen. Einmal, als mir gerade wirklich nichts mehr einfiel, wie ich die Unterhaltung noch vorwärts bringen könnte, fragte ich den Schachspieler nach seinem Musikgeschmack. Genau das stand dann vorwurfsvoll anderntags in der Zeitung.

Wenn ich nachts um Zwei nach Hause kam, ließ ich meine Kleider fallen, fiel ins Bett und augenblicklich in einen steinschweren Schlaf, aber morgens klappte ich noch vor Sieben wie ein Taschenmesser wieder hoch, rasierte mich, putzte mir die Zähne, schälte mich in Anzug und Krawatte und weg war ich wieder für den nächsten 19-Stunden-Tag. Es war ein einziger, nicht enden wollender Adrenalin-Rausch. Keine Pause. Nicht mal ein Gedanke daran.

Nach zwei Wochen wurden die Sieger gekürt, die Blumen verteilt und ich schaffte es tatsächlich mal in den VIP-Bereich, wo sich die Präsidenten der Schachverbände mit dem Parteispezi des Bürgermeisters und seinem Freund trafen. Sie stopften irgendwelches Gourmet-Finger-Food rein und sahen sehr gelangweilt aus. Dann begann die Abschlussfeier. Der Druck, ständig was tun und für irgendwen da sein zu müssen, verschwand mit jedem Halben und mit ihnen alles, was ich noch an Kraft hatte, um mich der vollständigen Erschöpfung zu wehren. Meine Stimme wurde leiser, rauer und verschwand schließlich komplett. Es war zu Ende. Ich bestellte mir ein Taxi, ließ mich nach Hause fahren und schlief vierzehn Stunden am Stück. Dann wachte ich mit einem Riesenkater auf, meldete mich krank und blieb fast zwei Wochen im Bett, während das Leben ohne Schacholympiade Tag für Tag in meinen Körper zurück fand.

Der Spezi des Bürgermeisters sagte später, er habe erwartet, dass ich beim Aufräumen helfe.

 

 

 

 

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