Vom Umgang mit dem Tod

Anästhesie. Im Pausenraum trafen sich alle um zehn zum Frühstück. Es waren sieben bis acht Krankenschwestern und sie rauchten fast alle. Der höchstens drei mal drei Meter kleine Raum war angefüllt mit einer Mischung dicker Luft aus Wurst, Käse, Eiern und Zigarettenrauch. Keiner regte sich drüber auf. Alle stöhnten sie über die Belastung. Als Zivi waren Sonderaufgaben für mich vorgesehen. Ich füllte auf der Station die Vorräte nach. Das kontrollierte aber niemand. Ich hätte auch statt eines lebensrettenden Tubus Trinkflaschen in die Regale stopfen können. Außerdem übernahm ich das Aufschreiben der Werte, die der riesige Apparat neben jedem der einzelnen Betten auswarf. Uhrzeit: soundso. Puls: soundso. Blutdruck: soundso. Temperatur: soundso. Das interessierte aber auch niemanden. Ich testete es eine Zeit lang, indem ich statt der Zahlen Strichmännchen in den Bericht kritzelte. Und ich setzte Spritzen unter die Bauchdecke, was für Zivis eigentlich verboten war. Aber auch hier schaute niemand wirklich hin. Erst als mir das so richtig bewusst wurde, nahm ich die Aufgabe ernst.

Unsere Kandidaten schliefen alle und wachten nicht mehr auf.  Ab und an kam einer der weißen Götter und drehte die Maschine ab. Sie schliefen dann einfach weiter. Nur eben etwas tiefer. Dann kam meist eine der Schwestern zu mir und sah mich mit diesem "Kannst-Du-das-bitte-machen"-Blick an und ich nickte. Das war eine Aufgabe, die ich freiwillig und gern übernahm. Es machte mir nichts aus, nachdem ich die ersten Albträume überstanden hatte. Sie rührten von dem armen Irren her, der sich vor den Zug warf und es soweit überlebte, dass er blutete wie ich noch nie habe einen bluten sehen. Er war völlig hinüber und würde sowieso nie wieder aufwachen. Aber sie hielten ihn am Leben, weil er einen verdammten Organspenderpass hatte. Sie besorgten ihm ein Spezialbett, das aussah wie eine mit Sand gefüllte Badewanne und er blutete sein ganzes Zeugs da rein. Sie fragten in der Klinik-eigenen Blutbank sogar bei der Bundeswehr nebenan, ob jemand diese Blutgruppe hatte. So viel Stoff drückte er in den Sand. Davon bekam ich üble Träume.

Ich war im Keller und musste Blut in Eimer abzapfen und mit den beiden Eimern links und rechts in der Hand durch die Gänge des Krankenhauses balancieren und durfte dabei nichts verschütten. Oben angekommen schütteten Ärzte das Blut in ein Rohr, das direkt in seinen Körper lief und ich musste schnell neues Blut zapfen gehen. Als das arme Schwein starb und man ihm die Leber und die Nieren rauszog, stellte man fest, dass es ein Trinker und Raucher war und seine Organe nichts wert waren. Dann drehten sie endlich die Maschine ab. Nachdem ich diese Träume überstanden hatte, machten mir die Bitten der Schwestern nichts mehr aus. Sie mochten es einfach nicht, den Rest zu erledigen. Sie machten den Job seit Jahren und sie hassten es. Manche gruselten sich davor, was ich nie verstand. Es war eine verantwortungsvolle und ehrenhafte Aufgabe, die ich gerne übernahm. Ich ließ mir immer viel Zeit damit, denn ich machte das sehr sorgfältig.

Zuerst war die Maschine dran, denn die Technik war teuer und sie wurde für das nächste arme Schwein gebraucht. Ich zog alle Schläuche nacheinander aus dem leblosen Körper und legte alles fein säuberlich neben die Apparatur, um die Teile nacheinander zu desinfizieren. Was ich davon wegschmeißen konnte, kam in einen Kanister voller eitriger und blutiger Utensilien. Von den zehn Betten in fünf Zimmern war immer genau ein einziges frei, da kam die saubere Maschine dann hin. Dann nahm ich mir zwei Schüsseln heißes Wasser und Seife und wusch den Toten. Wenn sie sich mit ihrem letzten Atemzug eingemacht hatten, was gar nicht so oft vorkam, machte ich sie zwischen ihren Beinen sorgfältig sauber und begann erst dann mit dem Waschen. Wenn alles erledigt war, waren sie blitzesauber und dufteten nach Krankenhausseife. Ich besorgte mir ein frischbezogenes Bett und jemand half mir, die Leiche rüberzuheben. Dann wurde sie zugedeckt und bekam an den rechten großen Zeh ein Namensschild.

Wir rollten in den Aufzug zum Keller und es ging die neun Stockwerke runter. Ich hab nie verstanden, warum sie die Intensivstation so weit oben hatten. Angeblich zählten die Aufzugfahrt hoch ja die Sekunden. Abwärts hatten wir dagegen Zeit. Viel Zeit. Manchmal öffnete sich die Tür in einem anderen Stockwerk, denn jeder von uns hatte einen Schlüssel für den Fahrstuhl. Aber egal wer seine Nase reinhielt, niemand wollte da drin mit einer Leiche zusammen fahren. Mich ließ das völlig kalt. Ganz im Gegenteil versuchte ich eine vertrauensvolle Beziehung zu meinen Kunden aufzubauen. Ich zog die Decke wieder zurück und betrachtete mir das leblose Gesicht. Ich redete sogar mit Ihnen, strich ihnen übers Haar und sprach ihnen Trost zu von der Art, dass sie es jetzt geschafft hätten und endlich nach Hause durften. Ich versuchte damit, ihnen im letzten Augenblick etwas Würde zurück zu geben, die sie durch diese schreckliche Prozedur scheinbar längst verloren hatten. Einmal zuckte einer mit dem Knie und ich hüpfte vor Schreck mit Karacho gegen die Aufzugwand.

Wenn wir unten ankamen, rollerte ich das Bett in den Leichenraum und verschloss die Tür von außen beim Rausgehen. Von der anderen Seite her kamen die Bestatter mit einem eigenen Schlüssel ran. Einmal starben mir in einer Schicht zwei weg und ich fragte mich dort unten, ob es mir gelingen würde, durch einen Tausch der Schilder die Leichen ins falsche Grab zu bringen. Ich brachte es dann aber doch nicht fertig. Falls es mir gelungen wäre, hätte ich es eh nicht überprüfen können. Eines Tages wurde eine 18-Jährige auf die Station gebracht. Sie war nachts mit ihren Freunden vom Rückweg aus der Disco unterwegs gewesen und der Fahrer rutschte von der Fahrbahn frontal gegen einen Baum. Von den vier Jugendlichen überlebte nur sie. Und zwar um den Preis, dass sie nachts ohne Versorgung stundenlang bewusstlos am Straßenrand liegenblieb. Sie schlief zwölf Wochen. Aber sie wachte als eine der wenigen Patienten wieder auf. Sie starrte an die Decke, sprach kein Wort mehr und bewegte sich nie wieder.

Ich habe mich deswegen lange schuldig gefühlt, denn es war zu erwarten, dass es so mit ihr kommen würde. Es hätte meine Freiheit gekostet, aber es wäre problemlos möglich gewesen, sie von diesem Schicksal in einer Nachtschicht zu erlösen. Wo man den Knopf in Richtung Nirvana hindreht, hatte ich oft genug zuvor gesehen. Ich hätte ihre Nachtwache übernommen, nach dem letzten Arztbesuch um Zwei das Sauerstoffgemisch runtergedreht und sie hätte noch vor dem Morgengrauen im Keller sein können. Aber sie war jung und sie war sehr schön und ich war nicht mutig genug. Ich war gut und gerne neun Monate dort und habe so um die zwanzig bis dreißig Patienten sterben sehen, ihre Versorgungsschläuche gezogen, sie gewaschen, frisch gebettet, den Zeh mit einem Schild beschriftet und sie nach unten gefahren. Wenn ich wieder nach oben kam, bezog ich das frei gewordene Bett frisch und wartete auf Kundschaft.

 

 

 

 

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Ein Kommentar

  1. Gelesen am 19.06.17 in der Z-Bar Gruppe Tintenschiff, Text 1

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