Hänsel in der großen Stadt

Bild: Google Earth

Wenn nicht alles komplett schief läuft, gibt es in jeder Jugend einen Moment der Initialzündung. Eine Art Timeslot, in dem man sich aus dem betreuten Leben heraus in sein eigenes Wesen hinein entwickelt. Auch wenn längst noch nicht alles mit dem Bild übereinstimmt, das man von sich zeichnen will. Peinliche Bilder aus dieser Zeit zeigen mich beispielsweise in einem strahlend weißen Sweatshirt mit rotem Coca-Cola Schriftzug! Doch es gibt es diesen einen sehr bestimmten Schritt, der entscheidet, dass es jetzt los geht mit dem prallen Leben. Ich war 15, als ich über diese Schwelle ging. In diesem einen turbulenten Jahr, das mit dem Sommer nach meinem fünfzehnten Geburtstag begann, rauchte ich meine erste Zigarette, betrank mich zum ersten Mal, ich begriff die Texte von F.C. Delius, verabschiedete mich von Abba und hörte stattdessen Ideal, war zum ersten Mal in einer Disco, rockte auf Hard’n’Heavy Konzerten, quatschte zum ersten Mal eine ganze Nacht lang durch, hatte zum ersten Mal Sex und träumte plötzlich davon, in Paris zu leben. Oder in Berlin. Das wiederum rührte von diesem einen Urlaub her, der diesen großen Schritt erst möglich machte.

Unseren Urlaub verbrachten wir auf einem Campingplatz im südlichen Lichterfelde, unweit der Mauer, also selbst im heutigen Berlin in einer absolut piefigen Randlage, in der es außer Westberliner Witwen und Bussen im 20-Minuten-Takt nicht viel zu entdecken gab. Aber jedes Mal, wenn ich morgens um Schrippen zu holen zur einzigen Bäckerei im erreichbaren Umkreis lief – und damit war ich eine halbe Stunde beschäftigt – war das MEINE Großstadt da draußen, in der es unendlich viel zu entdecken gab. Selbst die Doppeldeckerbusse, von denen ich noch nie im Leben einen live fahren sah, waren eine echte Attraktion. Und wenn die Verkäuferin in der Bäckerei rief; „nimmste noch zwee Schrippen mehr, kostet ooch detselbe“, dann war das für mich die Berliner Großstadtluft, die ich atmen wollte. Ich wunderte mich, wie viele Menschen in dieser Bezirksallee rauf und runter fuhren und dass ich an der Ampel den Knopf drücken musste, damit die Autos mal anhielten und mich rüber ließen, war sensationell.

In diesem Berliner Sommer heckte ich gemeinsam mit den beiden Mädels vom Wohnwagen nebenan die Idee aus, dass ich noch alleine eine Weile länger in Berlin bleiben könnte. Die Ältere von den beiden war 13 und himmelte mich an. Irgendwie gelang es ihr, ihre Mutter für die Idee mit einzuspannen und so überzeugten wir alle gemeinsam meine Muddi. Ich hatte noch Schulferien und ich war ja schon alt genug, um den Tag selbst zu organisieren. Auf dem Spielplatz gab es eine kleine Spielhütte, wo ich mit meinem Schlafsack pennen konnte und die Familie von nebenan versprach, dass sie mich mit versorgen würden. Im heutigen Zeitgeist kann ich es wohl keinem mehr erklären, wie es mir gelang, meine Eltern zu überreden, aber es klappte nach mehreren Anläufen tatsächlich. Die Alten fuhren nach Hause, ich hatte noch zwei Wochen Sommerferien und ich durfte allein in der großen Stadt bleiben mit meiner Reisetasche, dem Taschengeld und meinem Schlafsack, in den ich mich abends in der Holzütte verkroch. Genau genommen sah das Häuschen wie eine große Hundehütte aus. Es hatte eine winzige Tür und zwei Fenster und wenn man es mit Lebkuchen beklebt hätte, wäre ich dort mit Gretel gemeinsam eingezogen.

Von nun an flog die Zeit nur so dahin. Direkt am ersten Tag stürzte ich mich ins große Abenteuer. Zuhause hatte ich schon mit dem dicken Patrick aus der Nachbarschaft geraucht. Wir standen damals heimlich in irgendeiner schwer zugänglich kleinen Gasse und versuchten dabei erwachsen zu wirken, was blöd war, weil uns eh keiner sehen sollte. Und so fühlte es sich auch kein bisschen erwachsen an. Ich wusste also, was die Fluppen zuhause kosteten. Aber ich wusste auch, dass ich im Bahnhof Friedrichstraße am Kiosk der U6 die Marken aus der Kinowerbung für die Hälfte kriegte, weil sie in der DDR ohne Steuern verkauft wurden. Man durfte zwar nur zwei Päckchen kaufen, aber es kostete nicht mehr als ein Ubahn-Ticket, um hinzukommen. Ich kroch also morgens aus meinem Schlafsack in der Märchenhütte, freute mich des Lebens als ob mich das Glück höchst selbst geweckt hätte, sagte den Nachbarn nur kurz bescheid und machte mich dann auf in die große Stadt, ins Abenteuer, ins Leben, in die Freiheit. Voller Vorfreude in meinen Wrangler-Jeans, die passgenau auf meinem Knackarsch saßen, seitdem ich mich damit zuhause in die Badewanne gelegt hatte, meinen weißblauen Adidas-Tennisschuhen und dem strahlend weißen Shirt mit dem knallroten Coca-Cola-Schriftzug.

Nachdem ich die Bäckerei mit „heute nur eene Schrippe mit Bulette“ hinter mir ließ und im Doppeldecker den Platz ganz vorne, oben in der ersten Reihe ergatterte, ließ ich die große Stadt mit all ihrem Verkehr und Getöse an mir vorbeiziehen und war so unendlich stolz und voller Abenteuerlust erfüllt, dass ich vor Begeisterung jedem erzählt hätte, wie gut es mir geht. Aber es fragte keiner. Es war einfach völlig normal für alle anderen, dass ein junger Kerl wie ich durch die Stadt fuhr und so sollte es auch völlig normal für mich sein, mir den Ubahn-Plan mit den bunten Linien und Zahlen einzuprägen, mir vorzunehmen, wo ich heute noch alles hinfahre und mir straight away am Kiosk der U6 zwei Päckchen Stuyvesant und ein Feuerzeug zu kaufen. Ich schälte das Cellophan weg, pfriemelte eine Kippe raus, lehnte mich lässig an einen der Automaten und steckte sie mir an. „Nimm das, Welt – hier bin ich“, dachte ich mir und schaute mir in aller Ruhe das Gewusel rings um mich herum an, ohne dass auch nur einer Notiz von mir nahm, so schien es mir jedenfalls. Weil mir das Fahren im Schritt-Tempo durch die bewachten Geisterbahnhöfe im Osten wie im Spionagefilm vorkam, schaute ich mich auch wie ein Agent vor den Grenzübergängen oben um, aber dann fiel mir ein, dass ich gar keinen Ausweis dabei hatte – und mir kam der nützliche Gedanke, es vielleicht doch nicht allzu weit zu treiben.

In den zwei Wochen wiederholte ich das stolze Gefühl dieser ersten freiheitlichen Zigarette auf dem Bahnsteig der U6 noch mehrmals, aber so ganz geil wie beim ersten Mal kriegte ich es nicht mehr hin. Trotzdem fühlte ich mich urplötzlich sehr erwachsen. Ich spazierte lässig auf dem Kudamm, besuchte eine echte Kiezkneipe, sah mir die Junkies auf’m Bahnhof Zoo an, bestellte mir am Schlesi unter der ratternden Ubahn eine ordentliche Curry ohne Darm, spülte sie mit Cola runter und war immerzu fasziniert von all dem rundum, so dass ich trotz der Kippen dachte: Lass es dir bloß nicht anmerken, dass du aus der Provinz bist. Und als es dunkel wurde und ich in der U-Bahn die Play-Taste meines Walkmans drückte, um mir Udo Lindenberg anzuhören, da war ich bereits ein so cooler Großstadtjunge, dass ich Eiswürfel pissen konnte. So kam ich abends wieder zurück zum Wohnwagen der beiden Mädels, wo mich die 13-jährige während des Abendessens weiter anhimmelte und als ich später in meiner sandigen Hütte lag, kam sie vorbei, drückte sich an mich und ich erzählte ihr von meinen Abenteuern, wobei ich nicht damit sparte, kräftig nachzuwürzen. Ich genoss es, wie sie mir zuhörte, denn für sie endete Berlin noch in ihrem Dorf in Lichterfelde und wenn ich von meinen Zielen erzählte, die ich mir von nun an vornahm (New York, Rio, Tokyo), spürte ich, dass sie schon allein wegen meiner Fantasien davon träumte, das mit mir gemeinsam zu erleben, obwohl ich nahezu alles einfach erfand, wie es in den großen Metropolen dieser Welt so sein würde. Aber darauf kam es auch gar nicht an.

Jedenfalls, zum Ende der Ferien traute sie sich einen ersten Kuss zu, aber ich musste eh nach Hause fahren und so kam ich nicht in die Verlegenheit, noch etwas zu erklären, wovon ich keinen blassen Schimmer hatte – was sich übrigens nur kurze Zeit darauf schlagartig ändern sollte. Aber das ist eine andere Geschichte.

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