Blue Lines

Aus der Serie „Die besten Alben der Rock- und Pop-Geschichte“ – eine subjektive Auswahl.
Heute Teil 10: Massive Attack „Blue Lines“

Teil 9: SONGS FOR DRELLA
Teil 8: DAMALS HINTERM MOND
Teil 7: TRACY
Teil 6: BACK IN BLACK
Teil 5: NEWS OF THE WORLD
Teil 4: EXILE ON MAIN STREET
Teil 3: NINA HAGEN BAND
Teil 2: RUMOURS
Teil 1: MAKING MOVIES

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Es gibt nicht viele Alben in meiner stattlichen Sammlung, die das Prädikat „Meilenstein“ verdienen, aber das hier ist eines davon. Trip-Hop als eigenständiger Musikstil entstand unter starkem Einfluss elektronischer Musik Ende der 80er/ Anfang der 90er. Während die meisten dieser Bands versuchten, immer und immer wieder den Stil von Kraftwerk zu variieren, entstanden kleine Nischen für Bands, die den Fokus auf sanfte, bassbetonte, geradezu verträumte und chronisch langsame Rhytmen legten. Aus diesem Pool entstand in den Folgejahren sowas wie ein Chill-Out-Hype, dessen Klänge und Stil bis heute tausendfach kopiert auf Youtube zu finden ist. Wer heute im Suchfeld „Chillout“ eintippt, erhält eine schier unendliche Anzahl an Ergebnissen, deren Unterschiede eher im Titel der Videos (Relaxing Lounge Ambient Calm Meditation Quiet Background Music), als in der Musik selbst zu finden sind.

Mitten in die Gründerjahre dieser Stilrichtung veröffentlichte Massive Attack mit „Blue Lines“ 1991 das erste Album, dass dieser Musik durch Betonung von dunklen, durchgängigen Bass-Linien und breiten musikalischen Klangflächen einen starken und tanzbaren Ausdruck verlieh. Auf dieser Platte ist eine bis heute unerreichte Mischung von erzählartigen, ausdrucksstarken Texten des Hiphops und einem durchgängig groovenden Beat zu hören, der durch die fantastischen Stimmen der beiden Sängerinnen Shara Nelson und Tracey Thorn einem bisweilen dramatisch melancholischen Spannungsbogen folgt. Wie jedes Album, das ich in dieser Reihe vorstelle, gibt es keinerlei Schwächen zwischen den einzelnen Songs des Albums. Jedes Stück ein Kracher. Als ich es zum ersten Mal hörte, war mir sofort klar, dass es etwas ganz besonderes war und spätestens beim dritten Hören war ich der Platte verfallen.

Das Musikvideo von „Unfinished Sympathy“ setzte übrigens gleichsam Maßstäbe, als Shara Nelson in einem „One-Shot-Take“, also ohne Schnitt, durch die Pico Avenue von Los Angeles mit festem Schritt und sehr konzentriert voran schreitet, unbeachtet all dessen, was um sie herum vorgeht. Es passte einfach zur Stimmung der Musik und auch zur Erzählung des Stücks, wie sie an allem und jedem vorbei ihre Wut heraus schreit. „Like a soul without a mind. In a body without a heart. I’m missing every part“ – und zwar so gut, dass die Idee gleich mehrfach kopiert wurde. Am eindrucksvollsten sechs Jahre später, als Richard Ashcroft als Sänger von „The Verve“ seine Bittersweet Symphony in den Straßen von Hoxton, London schmettert.

Aber nicht nur das bekannteste Stück des Albums machte Furore. Auch „Safe from Harm“ ist einfach genial, weil es gleich mit mehreren Ideen und Wortspielen auf die begleitenden Beats hinweist. „Be Thankful for What You Got“ und „Daydreaming“ sind sozialkritische Texte – und genau wie die Texte schneidet sich auch die Musik dazu ins Bewusstsein, nicht zuletzt, weil sie so geschickt arrangiert ist, dass wie in einem Kanon gut eingängige Bausteine sich wiederholen, während einzelne Akzente nur zu den sozial-kritischen Textpassagen auftauchen. Als ob die Kompositionen einem sagen; ich bin genial, schau her ich kann es noch besser und hey; hier noch was obendrauf, nur für den Fall dass Du taub bist.

Auch die zwei nachfolgenden Alben „Protection“ und „Mezzanine“ setzen leicht verändert den Stil des Debuts fort, reichen aber insgesamt nicht mehr zu hundert Prozent an die Qualität von „Bue Lines“ heran. Was dem Stil des Triphops im Allgemeinen zusetzte, war auch die (Wieder-)Geburt des Grunges, als Nirvana und Co ihre besten Zeiten hatte und manche Band, vom Erfolg der „Blue Lines“ inspiriert, zu Unrecht weniger beachtet wurde. Die Idee, das ganze neu geschaffene Genre nochmal in Slow Motion zu feiern, brachte wenige Jahre später dann Portishead aus Bristol zur Perfektion mit dem 94-er Album „Dummy“. Aber selbst wenn ich diese beiden Goldstücke miteinander vergleiche, würde ich immer wieder Massive Attack wählen – man hört sich einfach nicht satt daran.

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