Fremdsprachenunterricht

Ich hielt es dort nur zwei Jahre aus, aber ich erinnere mich, dass es eine Aufnahmeprüfung gab. Nicht mehr an den Inhalt der Prüfung, doch ich bestand sie, denn nach den Sommerferien fand ich mich hinter größeren Schulbänken auf größeren Stühlen in einem größeren Haus wieder. Es war das fünfte Schuljahr und es hätte mich nicht härter treffen können. Die Klasse bestand nur aus Jungs, denn es war ein naturwissenschaftliches Gymnasium und Mädchen spielten bekannterweise nur mit Puppen. Wenn der Lehrer morgens pünktlich um Acht die Klasse betrat, sprangen wir wie auf Kommando von unseren Stühlen auf – teilweise so heftig, dass sie nach hinten umkippten – und riefen im Chor: „Guten Morgen, Herr Lehrer!“ und dann trat der Lehrer hinter sein Pult, legte eine Kunstpause von mehreren Sekunden ein und antwortete. Erst dann durften uns wieder setzen. Er schlug das Klassenbuch auf und ohne einmal aufzusehen, rief er die Namen der Jungs einzeln auf und nach jedem Namen rief einer „Hier“ zurück. Wenn einer nicht antwortete, schrie er den Namen ein zweites Mal. Niemand traute sich, was über den Fehlenden zu sagen, selbst wenn er es wusste. Und falls einer bloß nicht auf Zack war und den Moment, „Hier“ zu schreien verpennt hatte, war er dem Gespött des Lehrers die ganze Woche über ausgeliefert. Es war mein fünftes Schuljahr und ich hatte immer noch nicht begriffen, warum ich überhaupt hier war. Noch viel schlimmer war, dass ich diesem ganzen Drill nichts abgewinnen konnte, aber für manche schien es die Erfüllung zu sein. Es machte ihnen offensichtlich Spaß, gequält zu werden.

 

Für mich waren die Schulstunden nur ein Hindernis auf dem Weg in die Freizeit, die pünktlich mit dem letzten Schulklingeln begann und aus Fußball, Radfahren, Schwimmen und anderen Spielen bestand. Mit meinem besten Freund Wolfram spielte ich am Samstagnachmittag während der Radioreportagen aus der Bundesliga Tipp-Kick und was wir auf dem grünen Filz produzierten, brachte mich über die ganze, langweilige Schulwoche, in der wir auch samstags morgens noch antreten mussten. Unsere Lehrer waren teilweise so streng mit uns, dass man auch fürs Nichtstun bestraft wurde. Der Fachidiot für Demütigung, dessen Name ich heute noch weiß und der uns englisch beibrachte, prophezeite mir eines Tages, dass ich nie in meinem Leben englisch lernen würde, weil ich dazu einfach zu doof wäre. Das waren seine Worte. Natürlich nicht an mich privat gerichtet, sondern vor der Klasse. Auch den Namen des Sportschleifers weiß ich noch. Selbst dort herrschte permanent Leistungsdruck und Geschrei. Wer es nicht schaffte, über den mit Kunstleder bezogenen Holzkasten zu springen, hatte versagt und kriegte 'ne Fünf. Wer im Schwimmunterricht die einhundert Meter nicht in der vorgegebenen Zeit schaffte, kriegte auch 'ne Fünf. Wenn Du also gut im Schwimmen warst, aber 'ne Niete im Hochsprung, hast Du es nie über eine Drei hinaus geschafft. Der Mathelehrer gab mich nach ungefähr drei Schulmonaten auf. Ich entwarf Vorlagen fürs Schiffeversenken, indem ich auf meinem Schulblock Spielfelder zeichnete oder stellte mir vor, wie es in Wladiwostok aussehen mag, der Stadt, deren Namen ganz oben rechts auf der Weltkarte lag. Während andere irgendwas mit Zahlen lernten, investierte ich in Tagträume. Und das war anstrengend genug, wenn man sich den ganzen Schulmorgen über damit beschäftigen musste.

 

Musik war ein gutes Fach, denn der Lehrer hatte Ahnung von dem, was er uns beibrachte und er ließ uns daran teilhaben. Ich verstand, warum Mozart, Bach und Beethoven faszinierten, aber er war so gut darin, dass jetzt die anderen abschalteten und ich wollte kein Außenseiter sein, indem ich ihn immerzu mit neuen Fragen nervte. Lieber schloss ich die Augen und lauschte seinem Klavierspiel, was mir wiederum geistige Nahrung für meine Tagträume schuf. Es gab auch einen weiteren Lichtblick in Gestalt der einzigen Frau, die uns unterrichtete. Sie trug zwei Doktortitel im Namen und brachte uns Deutsch bei. Ich konnte mit dem ganzen Wortsalat aus Personalpronomen, Dativ, Interjektion und Konditionalplusquamperfektkonsekutivsätzen nichts anfangen, aber als wir ein Theaterstück probten, blühte ich auf und kassierte die einzige Eins der ganzen Gymnasialzeit. Jedenfalls hatte sie mich in ihr Herz geschlossen, nachdem ich in Karl Valentins „Buchbinder“ die ganze Klasse an die Wand spielte. Von nun an bestand die Schulwoche aus sechs spannenden Deutschstunden und dreißig Tagträumen. Um nichts in der Welt hätte ich die Deutschstunde verpassen wollen. Manchmal fragte sie was in die Klasse hinein und wenn es keiner wusste, richtete sie sich anschließend an mich, weil kein anderer von den Jungs dazu in der Lage war, im Aufsatz eine sauber abgetrennte Einleitung zu schreiben oder so viel Fantasie entwickelte, die Schönheit Waldiwostoks zu beschreiben. Im darauf folgenden Jahr wechselte die Deutschlehrerin und ab Mitte des Schuljahres tat ich nichts mehr anderes als Spielfelder zeichnen. Bald darauf war der Spuk dann auch vorbei und ich durfte ein Jahr zwei Schulformen nach unten zur Hauptschule, bevor ich dann wieder befördert wurde. In diesem einen Jahr passierte dann das genaue Gegenteil und ich schaffte mit der gleichen Leistung – nämlich dem einfachen Nichtstun – ein Zeugnis voller Bestnoten, wofür ich mich ein bisschen schämte, weil ich mich immer noch nichts tat, während die anderen sich teilweise so fühlen mussten, wie ich in den beiden Jahren zuvor.

 

Immerhin trug die Zeit im Gymnasium einen wichtigen Teil zur Aufklärung bei. Auf dem Rückweg vom Schwimmunterricht musste ich pissen und fragte in einer Eck-Kneipe nach der Toilette, weil ich wusste, dass die Wirtin mich süß fand und es mir erlauben würde. Kurz bevor ich das im Keller gelegene Klo betrat, hörte ich ein Geräusch, dass mich an das Öffnen und Schließen von Metallschubladen erinnerte, wie ich sie von Zigarettenautomaten kannte. Es war das typische Ratschen, nachdem man das Geld einwarf und am Auswurf seiner Wahl zog, je nachdem, welche Sorte man wählte. Ich kannte die Funktionsweise der Zigarettenautomaten ganz genau, denn obwohl nur die Erwachsenen rauchten, hatte ich es oft genug beobachtet. Ich stellte mich ans Pissbecken und schaute mich um, während ich es kommen ließ. Kein Zigarettenautomat war zu sehen. Aber zwei Köpfe höher hing neben dem Waschbecken ein schmaler, weißer Kasten mit drei Fächern, wovon eines offen stand. Ich packte mein Ding ein, langte nach oben und zog eine schmale Packung mit drei seltsam in Folie eingeschweißten Ringen raus, die ich mir in aller Ruhe betrachtete. Ich fühlte mich wie in einem Abenteuerfilm, in dem der Held gerade den Schatz im Silbersee entdeckt hatte, aber was das für seltsame Sachen waren, war mir völlig unklar. Wer auch immer mir diese Entdeckung mit seinem Münzgeld ermöglichte, musste wohl noch auf dem Klo hocken und hielt die Luft vor Scham und Angst an, entdeckt zu werden. Es waren die Siebziger und das Kaufen von Kondomen kam ungefähr dem öffentlichen Bekenntnis gleich, etwas höchst Unmoralisches zu tun. All das wurde mir im Moment meiner Entdeckung natürlich nicht klar und so zog ich voller Stolz los in Richtung des naturwissenschaftlich-mathematischen Gymnasiums, um dort meinen Schatz in aller Ruhe auf dem Schulhof zu präsentieren: Schaut her, was ich hier tolles habe, aber fragt mich bitte nicht, was es ist.

 

Alle betrachteten voller Neugier die drei Gummis. Es kamen immer mehr der Elf- und Zwölfjährigen zusammen und um mich herum bildete sich eine Riesentraube an vorpubertären Schülern, von denen mit Sicherheit der ein oder andere eine Ahnung hatte, aber niemand sich traute, was zu sagen. Wir zogen die Dinger unter lautstarkem Einwurf aller möglichen Spekulationen so lang, wie es eben nur ging. Dass die Dinger zum Schutz von Auspuffrohren geeignet seien, schien uns noch am wahrscheinlichsten, womöglich, weil wir dir Autos von den uns am meisten quälenden Lehrern kannten und mit Vorliebe irgendwelchen Dreck oder Schnee dort rein drückten. Einer schaffte es sogar, ein Gummi über eine ganze Armlänge zu ziehen und unser Klassenclown war drauf und dran, eins davon am Außenwasserhahn der Schule auf die Aufnahmefähigkeit von Flüssigkeiten zu testen. Das Ding blähte sich mit gut und gerne mehr als zehn Litern auf, bevor es platzte. Dann fragte irgendjemand von den Älteren auf dem Schulhof lautstark, was wir mit den Parisern machen, was mich vollends verwirrte, denn ich hielt die Einwohner der französischen Hauptstadt für um so einiges verdächtig, aber nicht dafür, dehnbare Gummitüten zu sein. Der Fachidiot für Demütigungen beendete schließlich das Geschreie und Getobe und fügte meinen Beurteilungen einen weiteren Hinweis hinzu, der was mit Ungezogenheit und aufrührendem Verhalten zu tun hatte, auf den es aber wegen der schulischen Leistungen jetzt auch nicht mehr ankam. Immerhin hatte ich jetzt einen guten Grund zu fragen, was Pariser sind und so wusste ich noch vor dem Kauf meiner ersten Bravo, was man so alles mit dem komischen Ding machen kann, das ich schon so lange kannte.

 

 

 

 

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2 Kommentare

  1. Stark!

    Erinnert mich ein bisschen an Ludwig Harig ("Weh dem, der aus der Reihe tanzt"), wo er seine Jugendzeit in Sulzbach während des Dritten Reichs beschreibt.

     

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