Einsatz für Dr. Love

„Ach Lilia, wie lange soll das noch so gehen?“ fragte er. Sie schaute ihn verzweifelt an und schon in all ihrem Ausdruck vor der Antwort erahnte man, was kommt. „Du weißt, dass es mir leid tut, aber ich kann nicht anders. Henry, Du bist so ein guter Mann. Aber ich kann es nicht. Komm her, lass Dich küssen“. Sie ließ ihre Arme über den Tisch fliegen, zog mit beiden Händen sein Gesicht zu sich ran und drückte ihm einen Kuss auf, der irgendwo zwischen 'ach mein bester teurer Freund' und 'wenn nur alles anders wär' lag. Ich ließ das Tablet, auf dem ich gerade eine Story schrieb, etwas sinken und schaute mir die beiden an. Sie sahen aus, als ob es zwischen ihnen passen könnte. Sie hatten bereits eine Flasche Silvaner hinter sich. Henry war Anfang 40 und hielt seine brennende Kippe während des Kusses so weit weg, als ob er sich dafür entschuldigte, dass er rauchte. Er sah so aus, als ob er schon 'ne Menge im Leben genossen hatte, aber diese Nuss war offensichtlich zu schwer, um sie zu knacken. Er ließ den Kuss verstreichen, ohne irgendwelche Mühen darauf zu verwenden, ihn zu wiederholen, lehnte sich zurück und zog an der Fluppe weiter. Lilia dürfte um die 35 gewesen sein. Auch sie sah nicht wie eine Kostverächterin aus, aber etwas schien stark in ihr zu arbeiten. Die ganze Frau ein Fragezeichen. Sie orderten die zweite Flasche Wein und es machte mir Hoffnung auf ein Happy End.

Der Weinbrunnen am Rüdi war gut gefüllt. Ich hatte Glück, einen Platz an einem Tisch zu ergattern, da war ich nicht wählerisch, wer mich vom Schreiben abhielt. Die Platanen durchmischten Sonne und Schatten zu uns. Es war ein angenehmer Samstagnachmittag . Ich orderte einen kernigen Riesling. Eine gute Zeit für eine gute Story in einer guten Umgebung. Nicht zu laut, um nicht bei der Sache zu bleiben, nicht zu leise, um ein vertrauenvolles Grundrauschen um mich herum zu legen, und Lilia und Henry gaben außerdem ihr Bestes, um mich zu inspirieren. Ich lockerte die Finger und schrieb drauf los: "Wenn Du erst mal begriffen hast, dass alles nichts ohne Liebe ist, ist Dein Leben meist schon über der magischen 50%-Marke. Früher hättest Du einen Scheiß darauf gegeben. Irgendwer kommt und geht immer und Liebe ist schließlich kein Wechsel auf die Ewigkeit. Eine Zeitlang denkst Du, es ist ja auch so ganz schön. Bestimmt hast Du einen echt guten Job, der Dich fordert und mit dem Du Dich auch noch beschäftigst, wenn Du zuhause bist. Das bringt Dich eine Zeitlang über die Runden. Oder Du hast gerade eine ziemliche Pleite erfahren und es geht Dir gut dabei, alleine zu sein. Du gehst wieder alleine aus und tust das gern und es macht Spaß, fremde Gesichter zu sehen, mit denen Du nicht das Geringste zu tun hast.“, fuhr ich fort und unterbrach für den zweiten Akt die Schreiberei.

Du weißt, dass ich nicht drüber hinweg komme. Er hätte mich nicht verlassen dürfen…“, unterbrach mich Lilia. Henry schaute sie verzweifelt an. Ich konnte erkennen, dass er das schon mindestens zehn Mal gehört hatte. „Was sollte ich ohne ihn in Barcelona tun? Ich musste hierher nach Berlin zurück. Aber wie soll ich ihn vergessen, wenn es so weh tut, daran zurück zu denken?“, gab mir Lilia den Stoff direkt in die Tasten. Henry sah sie an. „Du weißt wohin du dich wenden kannst, wenn du dich einsam fühlst“, sagte er und goss nach. Die beiden waren gut am bechern. Die zweite Flasche neigte sich langsam dem Ende zu. Dann legte Lilia wieder ihre Platte auf. "Du bist so ein feiner Kerl, ich mag Dich so sehr, komm, ich geb' Dir einen Kuss", als ob sie das zum ersten Mal anbot. Wieder langte sie mit beiden Armen über den Tisch, er hielt seine Zigarette wieder mit ausgestrecktem Arm Richtung Nachbartisch und es schmatzte hörbar wie beim ersten Mal. Ich ging zur Theke, orderte einen weiteren Kernigen und betrachtete mir die Szene von dort aus. Es sah aus, als ob man einem Stummfilm folgte und nur die Lippenbewegungen erkannte. Jemand blendete eine Texttafel ein. Auf der ersten stand: „Oh bitte nimm mich, Du bist der Richtige. Aber versprich mir, dass Du mich nicht hängen lässt“. Die Lippen bewegten sich wieder. Eine zweite Texttafel blendete sich ein. „Was ist nur Dein Problem, Du dummes Mädchen? Warum vergisst Du den Typen nicht einfach und kommst mit zu mir?“. Eine leere Sprechblase war zu sehen. Ich nahm den Riesling und setzte mich wieder hin. Ich musste den Gedanken aufschreiben, bevor er mir wieder entglitt. Ich textete weiter:

Vielleicht bist Du sogar ständig unter Leuten, besuchst Weinlokale, Lesungen, Ausstellungen, meldest Dich in Selbsthilfegruppen und Kochkursen an, verbringst eine Menge spaßiger Zeit im Internet und die Zeit fliegt nur so dahin. Aber irgendwann merkst Du es. Die Zeiten werden langsamer. Die anderen werden kleiner. Dir fällt auf, dass der Job mehr bringen würde, wenn Du es jemandem sagst, der es auch hören will. Und dann kommt es auf Dich zu mit einer Wucht, die Dich vor Ehrfurcht erstarren lässt. Du begreifst auf einmal, was es bedeutet und Du wünschst Dir nichts mehr auf dieser Welt. Ich geb Dir einen ganz heißen Tipp: Sieh bloß zu, dass Dich jemand da abholt!“. Ich ließ das Tablet zufrieden sinken. So konnte man es rüberbringen. Ich sah die beiden an und merkte, dass sich die gleiche Szene zum dritten Mal andeutete. Es war Zeit für den Einsatz von Dr. Love. „Hört zu, Ihr beiden Hübschen“, sprach ich sie an. Während Ihr hier Eure Beziehungslage zu klären versucht, aber weder die erste, noch die zweite Flasche den Knoten gelöst hat, habe ich eine Geschichte geschrieben, die Euch bekannt vorkommen wird. Wollt Ihr sie hören?“ Sie wollten. Ich las sie ihnen vor. Als ich bei „sieh bloß zu, dass Dich jemand da abholt“ ankam, sah ich Lilia an. Unsere Blicke ruhten ineinander, dann schossen ihr die Tränen raus.

"Gib mir deine Halskette", sagte ich zu Lilia. "Ich will Dir was zeigen". Sie schaute mich nur einen sehr kurzen Moment fragend an, folgte dann aber. Ich hielt ihr die geöffnete Kette vor die Nase, indem ich sie an einem Ende packte und sie nach unten auspendeln ließ. "Das hier, Lilia, ist Dein Leben", sagte ich. "Ich will dir nicht zu nahe treten, aber der Einfachkeit halber sagen wir, wir sind jetzt hier angekommen"… ich legte die Kette in der Mitte zusammen und hielt sie mit zwei Fingern an beiden Enden zusammen. Sie war jetzt nur noch halb so lang. "Und das hier ist der Rest Deines Lebens“, fuhr ich fort. Es war eine rhetorische Frage an Lilia, aber Dr. Love wusste, dass er sie trotzdem stellen musste. „Wenn Du jetzt am Ende der Kette ankommst und auf diesen Tag zurückschaust, wie wird es Dir wohl gehen, wenn Du Henry heute Abend schon wieder allein nach Hause gehen lässt?" Sie starrte die Kette an. Ich spürte, wie der Alkohol in Lilias Kopf seine Wirkung vollends entfaltete, bevor ihr die pure Panik zu Gesicht stand. Ich nahm ruhig ihre Hand, öffnete sie behutsam und drückte ihr die Kette in die Handinnenfläche, nahm die zweite Hand hinzu und schloss damit ihre Finger um den Rest ihres Lebens. Sie schloss die Augen. Dann wandte ich mich Henry zu. "Das sage ich ihr doch die ganze Zeit", raunte er mir zwischen zwei Zügen aus seiner Kippe zu. „Nein, das tust Du nicht“, entgegnete ich. „Du hörst ihr nicht zu. Hör auf damit, ihr zu sagen, dass sie Mr. Barcelona vergessen soll. Das ist nicht das, was sie hören will, denn das weiß sie selbst, wie Du eben gesehen hast“. Dr. Love lief nun zu Höchstform auf. Es war Zeit für das Finale und für den dritten Riesling, der gleich auf wundersame Weise von selbst zu mir kommen würde. Ich musste nur noch diesen einen Korb versenken. „Du musst ihr nicht sagen, dass Du der Größte bist. Das weiß sie auch so. Nimm ihr die Angst, dass es ihr mit Dir genau so geht und mach ihr klar, dass Du sie nicht sitzen lässt. Das ist alles, was sie will.“

Dr. Love lehnte sich zurück und genoss den letzten Akt des Dramas. Die beiden schauten sich an. Lilia beugte sich über den Tisch und er war es nun, der sie zu sich zog, bevor sie sich einen langen, fast nie enden wollenden Kuss gaben, der mich den ganzen Rest des zweiten Rieslings kostete. Dann stand Henry auf, um mir den dritten zu ordern. Lilia sah mich an. Sie beugte sich nach vorne und gab jetzt mir den Kuss, den Henry kassierte, bevor Dr. Love energisch einschritt. Als Henry mit dem Glas zurück kam, stellte er es wortlos vor mich hin. Ich stand ebenso wortlos auf, er gab mir eine Umarmung und verabschiedete sich von mir, indem er seinen Arm sanft auf meine Schulter legte. Dann griff er sich Lilia und verschwand. Ich schaute mir die goldene Farbe des Weins gegen das Sonnenlicht an und ließ ihn im Glas mit leichten Handbewegungen im Kreis tanzen. Dann führte ich das Glas unter die Nase und nahm einen kräftige Brise kerniger Früchte wahr, die mich an Mirabellen und Limonen erinnerte und prostete Dr. Love zu.

 

 

 

 

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