Dosenravioli

Bild erstellt mit „Dall-E“ AI-Bildgenerator

Es klingelte an der Tür. Draußen im Hausflur war ganz eindeutig jemand. Dann klopfte es. Ich blieb regungslos liegen und lauschte, ob die Person es weiter versuchen würde. Dann ging sie wieder. In der Woche zuvor hatte mal jemand angerufen, aber ich ließ es läuten. Eigentlich ließ ich es grundsätzlich läuten. Ich ging nie ran. Und drei Tage zuvor unterhielten sich welche im Hausflur vor der Tür. Versehentlich, so schien es mir, streifte jemand an meiner Wohnungstür lang. Und jetzt schon wieder diese plötzliche, grässlich laute Klingel. Ich blieb starr liegen und hoffte, keine verräterischen Geräusche abzugeben. Warum konnten sie mich nicht einfach in Ruhe lassen? Ich hatte niemanden gebeten, hier anzurufen oder vorbei zu kommen. Ich hatte nichts bestellt, ich brauchte auch nichts und ich hatte auch keinerlei Bedürfnis, jemanden zu sehen. Alles was ich wollte, war einfach nur hier zu liegen unter meinen vier bis fünf Decken, die ich übereinander gestapelt hatte, und nichts zu tun. Ich lauschte, ob ich noch was vom Hausflur aus hören konnte, aber jetzt war da nichts mehr. Dann drehte ich mich zur Wand und schlief wieder ein. Als ich nachts wach wurde, lief der Fernseher. Ich sah mir das Testbild an. Dann wechselte es und es kam ein anderes Testbild. Auf den anderen Kanälen rauschte es nur.

Irgendwann mittags stand ich auf, weil ich aufs Klo musste. Es war eine 1-Zimmer-Wohnung mit Außenklo auf halber Treppe und ich schleppte mich nach draußen, kam frierend wieder zurück ins Zimmer und verzog mich sofort wieder unter meine Decken. Obwohl es Winter war, war es hier schön warm und ich wurde wieder schläfrig. Draußen waren es Minusgrade. Ich konnte es sehen, als ich auf dem Klo war. Grau, verregnet, windig und viel zu hässlich, um es sich noch weiter anzusehen. Die Glotze lief. Sie war das Einzige, was ich in mein Leben ließ. Sie lief Tag und Nacht und wenn ich zwei Stunden zusah, wusste ich nicht mehr, was ich vorher gesehen hatte. Auf einem der privaten Sender, es gab RTL-Plus, Sat1 oder Pro7, lief eine Serie namens „Mein Vater ist ein Außerirdischer“, aber um was es ging, hatte ich schon wieder vergessen. Nachrichten. Eine Doku. Ein Spielfilm in Schwarz-Weiß. Dann wieder eine Serie. Ich schlief wieder ein. Ich schlief achtzehn Stunden am Tag. Und in den anderen sechs schaute ich mir irgendwas an, egal was lief.

Drei Wochen war es her, seit sie mich trotz meiner deutlichen Depression mit einer Monatsration an bunten Pillen aus der Klinik entlassen hatten. Ich mochte die Dinger nicht. Sie verursachten massive Nebenwirkungen und lagen irgendwo in der Ecke, ich hatte auch vergessen wo. Was mir am meisten Angst machte, das war, unter Menschen zu gehen. Aber ab und an was essen zu müssen, trieb mich alle zehn Tage zum Discounter und weil es um Weihnachten war, griff ich mir einen gefüllten Karton mit zehn von diesen Christstollen, legte obenauf ein paar Dosen Ravioli und sah zu, dass ich wieder nach Hause kam, bevor mich allzu viele Menschen blöd anglotzen konnten. Ich wollte nichts dringlicher, als alleine sein und mich wieder in meiner Höhle verkriechen und so legte ich mich wieder hin. Den Kohleofen in der Küche anzuwerfen, war mir viel zu viel Arbeit. Es hätte bedeutet, dass ich vom Keller aus die Kohlen hätte hoch schleppen, mit Anzünder, Kehrschaufel und Kleinholz hantieren und die Geduld aufbringen müssen, bis das Ding in Gang kommt. Dann hätte ich wieder aufstehen müssen, um Kohlen nachzulegen – und das war mir alles zu viel. An den meisten dieser Tage schaffte ich es ohnehin nur zwei Mal von meiner Couch hoch. Entweder weil ich aufs Klo musste, mir Christstollen zu holen oder eine Dose Ravioli aufzureißen. Ich fraß das Zeugs kalt. Es schmeckte eh nach nichts. Und mir schmeckte nichts mehr.

Ich nahm keinerlei Drogen, ich soff nicht und nahm auch sonst nichts zu mir, außer ab und an einen schwarzen Kaffee oder diesen Fraß, aber mir war auch glasklar, worauf es hinauslief. Von allen Freunden oder zumindest von allen, die ich vor der Klinik für meine Freunde hielt, war jetzt keiner mehr da und weiß der Teufel wer da vorhin klingelte, es war mir auch egal. Ich saß oder vielmehr lag hier meine Zeit ab, bis ich mich dazu entschlossen hatte, auf welche Art ich mich umbringen würde. Derlei Gedanken kamen mir häufig, aber ich hatte weder die geeigneten Pillen dazu, noch hätte ich mich aus dem dritten Stock gestürzt, denn dazu war ich nicht mutig genug. Wer weiß, ob es gereicht hätte. Am Ende hätten sie mich womöglich von einem Autodach gekratzt und dann wäre es mit dem Dahin-Siechen noch weiter gegangen, nur dass ich dann nicht mal mehr hätte aufstehen können. Die Glotze und die Couch mit den warmen Decken waren meine einzigen Freunde und selbst wenn ich mich zum Discounter aufmachte, wollte ich mich eigentlich schon im Hausflur wieder umdrehen und weiterschlafen, weil ich keine Kraft dazu hatte. Ich hatte zu gar nichts Kraft.

Der ganze depressive Wahnsinn, aus dem mir keinerlei Ausweg möglich schien, gipfelte darin, dass ich eines Tages auf meinem Außenklo saß und damit anfing, mich selbst zu beweinen. Mir wurde bewusst, dass ich ganz unten angekommen war und dass es keinerlei Ausweg aus meiner Situation gab und dass ich ein Wunder brauchen würde, um da wieder rauszukommen. Ich weinte, bis ich leer war. Ich saß dort mindestens eine Stunde, frierend bis aufs Mark und heulte, bis nur noch Krämpfe, aber keine Tränen mehr kamen und wenn ich an diesem Punkt die Kraft gehabt hätte, diese ganze Scheiße hinter mir zu lassen, wären diese Zeilen nie geschrieben worden. Dann schleppte ich mich zurück unter meine Bettdecken, rollte mich ein und schlief zehn oder zwölf Stunden und als ich wieder aufwachte, wechselte ich den Fernsehkanal. So ging das viele Wochen. Weihnachten kam und ging. Silvester kam und ging.

Und dann geschah das Wunder. Weil ich das Telefon abhob, als es Anfang Januar klingelte. Ich weiß nicht, warum ich es tat. Es war wie ein übrig gebliebenes Ritual, wie eine automatisierte Handlung aus einer Zeit, in der es noch Freunde, ein Leben voller Abwechslung oder warme Linsensuppe gab, die nach was schmeckte. Am anderen Ende war einer, den ich mal zufällig kennengelernt hatte und ich wusste nicht mal mehr, woher der meine Nummer hatte. Aber der sagte „Hallo“ und fragte mich glücklicher Weise nicht, wie es mir geht. Und der erzählte mir, dass er jetzt mit anderen einen Schachklub gegründet hätte und er wusste auch, dass ich das Spiel kannte und dann fiel mir wieder ein, dass ich mal Schach mit ihm gespielt hatte, bevor meine Welt eine andere geworden war. Und weil ich das Telefonieren und das Reden überhaupt nicht mehr gewohnt war, stammelte ich was von ‚Vielleicht‘ und ’nächste Woche‘, aber er ließ nicht locker. Er sagte, er würde am Samstag nochmal anrufen und so wusste ich, wer da klingelte, als es Samstag wurde. Ich starrte das Telefon an und ließ es klingeln. Aber als er es sonntags nochmal versuchte, ging ich ran und dann sagte ich einfach ja, damit ich meine Ruhe hatte.

Der Vereinsabend war freitags und so hatte ich fünf lange Tage Zeit, darüber nachzudenken. Manchmal verdrängte ich den Gedanken, weil ich Angst davor hatte. Dann dachte ich daran, wie elendig ich mit meinem Weinkrampf auf dem Klo gesessen hatte und dass ich davor auch Angst hatte. Und als es Freitag wurde und die eine Angst die andere überlagerte, machte ich mich mit dem Vorsatz auf, es dort höchstens eine halbe Stunde auszuhalten, damit ich endlich meine Pflicht getan hatte und anschließend wieder mit mir allein sein durfte. Ich ließ vorsichtshalber die Glotze laufen, als ich ging. Am Ende brachte ich es sogar auf mehr als eine Stunde. Als ich wieder zuhause war, setzte ich mich auf den Rand meiner Couch, drückte die Decken nach hinten weg und stellte mir das alte Schachbrett mit den Holz-Figuren auf. Ich starrte es lange an und dachte über das Spiel nach, das ich vorhin selbst gespielt hatte, aber auch über die, bei denen ich zugesehen hatte. Während ich die Spiele in Gedanken nachspielte, dröhnte was Nerviges aus dem Fernseher und ich drehte ihn einfach ab. Nachdem er seit mehr als zwei Monaten in Dauerschleife lief.

Es war kalt und ich sah mich um. Vielleicht war noch was zum Trinken da. Ich könnte den Ofen anwerfen, dachte ich.

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