Angst und Schrecken in Südtirol

Es hatte was Cooles, Unabhängiges, Souveränes, mit dem gemieteten Camper gegen Sonnenuntergang irgendwo anzuhalten, wo es Conny und mir gefiel, die Stühle und den Tisch rauszustellen, die Markise auszurollen, die Kochplatten anzuwerfen, den Wein zu entkorken und den Standplatz augenblicklich zu unserer neuen Heimat zu erklären. Manchmal taten wir das für ein, zwei Tage, manchmal auch nur für eine Nacht. Wir hielten auf Waldparkplätzen, an wild rauschenden Bächen, an den Ufern schöner Seen, auf Berggipfeln, auf einsamen Wegen, ja selbst auf Kuhweiden oder auch in Städten. Wo immer wir waren, begann das Ritual des Ankommens und spätestens nach einer halben Stunde kannte man die umherschwirrenden Käfer beim Vornamen. Es war irgendwie das Zwischending. Kein echtes Campen mehr wie früher, als man morgens unter Schmerzen von der harten Isomatte kroch und mühsam den winzigen Gaskocher in Betrieb nahm, bis irgendeine unsäglich schwarze, bittere und dann viel zu heiße Brühe fertig war, man die Brötchen von gestern aus dem Rucksack pfriemelte und sich dann bewusst wurde, dass man sich erstmal ein Klo suchen muss. Es war auch nicht das Wohnzimmer zuhause oder das Hotelzimmer, aber es gab ein Klo, es gab 'nen Sessel, es gab ein Bett und wenn man was anderes sehen wollte, fuhr man den ganzen Krempel weg und parkte ihn, wo es was anderes zu sehen gab. Es waren schöne Tage.

Einmal hielten wir in einem italienischen Dorf, am Rande der Dolomiten. Die Gegend war karg, die Berge felsig, der Ort bestand aus etwa fünf bis zehn Straßen, aber er lag hoch oben und man konnte wunderbar ins Tal sehen. Und er hatte einen fantastischen Parkplatz direkt neben dem Dorf-Friedhof. Ich steuerte das Wohnmobil an den Rand der Böschung talwärts, parkte die Karre und fing mit den üblichen Vorbereitungen an: Markise rausziehen, Tisch aufstellen, Stühle aufklappen, den Klassiksender im Radio einstellen, den Roten entkorken, Gläser, Teller und Servietten raus…. Gerade als ich mich fett in den Klappsessel eingewanzt hatte, kam Conny auf den Friedhof zu sprechen. Mir war die Nähe zu den Toten auch aufgefallen, man konnte ja vom Fahrersitz aus die Namen auf den Gräbern lesen, aber es machte mir bis zu diesem Augenblick nicht das Geringste, direkt neben dem Mäuerchen des Totenangers zu halten. Es war wunderbar ruhig. Jetzt gegen Abend wollte sowieso keiner mehr Blumen abstellen. Die Abendsonne schien unters Dach, es war warm, ich saß gut, die Aussicht war fantastisch und den Leichen konnte der gute, alte „Ludwig Van“ wirklich nicht schaden. Warum sollte ich was dran ändern? Conny startete eine Diskussion, in der die Wörter Ruhestörung, Pietät, Respekt und Totenruhe eine wesentliche Rolle spielten. Ich hörte es mir an und dachte darüber nach.

Was, wenn sie hier wirklich darauf achteten? Mir war eher nach Unruhe, wenn ich an die Kombination Tourismus, nervende Camper (deren Besitzer ihre Abwässer in die Gegend schütten und ihren Müll zurücklassen) und italienische Veteranen (die bei deutschen Kennzeichen in Schnappatmung ausbrechen) dachte. Wie auch immer; was eben noch nach einem perfekten Urlaubsabend aussah, wuchs sich nun zu einer völlig unerwarteten Nervosität aus und das, obwohl sich nichts, nicht mal ein winziges Staubkorn oder ein bedenkliches Räuspern dazwischen mischte oder die Situation verändert hatte. Die Sonne stand noch immer exakt dort, wo sie hingehörte und wo sie uns warm beleuchtete. Der Ausblick ins Tal war fantastisch, der Rote wurde mit jedem Schluck besser und Beethoven zerrte vom Leder was das Zeug hielt. Ich beschäftigte mich derweil in Gedanken mit rachsüchtigen Dorfbewohnern, die nachts in kleinen Gruppen bewaffnet als Bürgerwehr durch die Berge zogen und als Sofortmaßnahme alle vier Räder des Campers platt machen würden. Dann würden sie ihn womöglich mit schwarzer Farbe besprühen und in fetten, italienischen Lettern „Das ist für unsere Toten, ihr Nazis!“ drauf schreiben und wenn wir am nächsten Tag verstört die Carabinieri sprechen, würden die nur mit den Schultern zucken und uns eine Beschwerdeadresse in Mailand überreichen.

Conny war daraufhin der Meinung, dass wir damit noch gut bedient wären. Die Vision, dass sie uns nachts Chloroform in die Kiste leiten, sich erst an unserem Hab und Gut und dann an ihr bedienten, indem sie einmal rundum als Matratze für die Dorfjugend diente, schien ihr wesentlich wahrscheinlicher. Ich gab zu, dass das eine Sorge wert war.  Nicht minder beunruhigend, aber zugegebenermaßen unwahrscheinlich erschien mir noch die Möglichkeit, dass sich nachts, während wir friedlich schlafen, die ganz besonders patriotischen Leichen auf den kurzen Weg über die Friedhofsmauer zu uns machen und ersann einen passenden Kinotitel dazu, sowas wie „The Walking Deads — Mussolinis Revenge“. Aber es schien mir nicht sehr realistisch, dass das ein Kassenschlager werden würde.

Kurzum, wir waren beide ernsthaft beunruhigt und drauf und dran, das Abendessen woanders einzunehmen, vielleicht sogar in der Dorfkneipe, um die Eingeborenen gütig zu stimmen ob der frevelhaften Tat, die immerwährende Totenruhe zu stören und zwar ausgerechnet durch deutsche Kartoffeln. Eine Weile dachten wir schweigend darüber nach, welche Foltermethoden uns hier erwarten, wenn wir nicht augenblicklich die Markise einrollen, den Parkplatz räumen und fluchtartig das Weite suchen würden. Aber dann nahte unerwartet Rettung. Und zwar in Gestalt eines offensichtlich sehr, sehr wütenden, polternden Mannes, der aus Richtung Dorfmitte zu uns wankte. Es sah so aus, als ob er völlig betrunken sei, was uns eine gute Erklärung für sein fassungsloses Geschrei geliefert hätte, aber er war es nicht. Das Gebrüll folgte einem ehrlichen, wütenden, gerechtfertigten Instinkt, den man erahnen und greifen konnte. Es war ein Schreien, das ganz und gar nicht Folge einer Droge, sondern vielmehr eines Rituals war, man konnte den Lauten einen Takt, etwas Festes und Stetes entnehmen, welche die Wut bestätigte und die der Schreihals wohl schon immer in sich trug. Sehr viel einprägsamer und heftiger, als dies ein ordentlicher Suff hätte auslösen können.

Und obwohl mein Italienisch nicht annähernd dazu ausreichte, ihn zu verstehen, ergab das Gesamtbild, seine heftigen Ausbrüche, wie er dazu mit den Armen fuchtelte und zugleich völlig unkoordiniert auftrat, sich seiner Sache aber absolut sicher war, ein Bild, an dass ich mich seit meinen frühen Kindertagen beim Besuch einer entfernt Verwandten erinnerte. Der da war einfach nur der harmlose Dorfdepp. Einer, der trotz seiner Macke, die vermutlich schon seit Ewigkeiten das ganze Dorf nervte, Teil der Gesellschaft war. Jeder hier kannte ihn und jeder hier lebte damit, was er Tag für Tag lauthals rausfluchte. Akzeptiert in seinem ständigen Geschrei wie das Vorbeirauschen der Züge auf der Schnellbahntrasse, die am Dorf vorbeiführt. Die so oft vorbeirauschen, dass man es schon gar nicht mehr merkt. Kein Mensch regte sich darüber auf. Und als ich diesen armen Wicht an uns vorbeischimpfen sah, da ergriff mich plötzlich ein Gefühl totaler Geborgenheit. Wenn der hier willkommen ist und es auch bleibt, so dachte ich, würde uns die Dorfgemeinschaft nie und nimmer dafür anklagen, dass wir den guten alten 'Ludwig van' über die Gräber klingen ließen. Ich entspannte mich augenblicklich, ließ Conny an meinen Weisheiten teilhaben, überzeugte sie damit und goss mir noch was vom Roten nach. Alles war gut und von jetzt ab galt bestenfalls noch die Frage, wie lange uns die Abendsonne noch verwöhnen würde. Dank dieses jungen, sehr energischen Brüllers, der uns das Vertrauen in die Großzügigkeit der Dorfbewohner binnen Minuten zurückgab. Ich wünschte, ich hätte ihm das erklären können.

 

 

 

 

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