Zur Post

Dienstags und Donnerstags war Fußballtraining. Und danach trafen wir uns bei Eddie. Es war eine altbacken eingerichtete, voller Holztische und Holzstühle stehende Dorfkneipe. Es gab eine beachtlich lange Theke, die um zwei Ecken ging, es gab einen Geldspielautomaten und zwei Videospielautomaten, wovon mich einer ganz besonders faszinierte: Man musste mit einem Kran ein Containerschiff beladen. Das Schiff legte an, dann kam ein LKW und der brachte sieben oder acht unterschiedlich große Container. Manche waren nur halb so groß wie andere, manche doppelt oder dreifach so groß und das Schiff hatte solche Luken, in die man die Container rein stapelte. Am Anfang war es noch leicht, aber dann kamen immer mehr LKWs, man musste schneller stapeln und erst wenn das Schiff randvoll war, fuhr es los und man kam ins nächste Level, was bedeutete, dass ein neues Schiff anlegte. Ich spielte da manchmal vierzig oder fünfzig Minuten mit nur einer Mark und die ersten drei Level mit links. Ich war ein verdammt guter Hochstapler!

Aber das ist nicht die Geschichte, die ich erzählen wollte. Wir waren noch jung, um die 16 oder 17 und in dieser Kneipe jedenfalls, die klassisch „Zur Post“ hieß, gab uns Eddie ohne groß zu fragen, was wir bestellten. Kalle, der ein guter Mittelfeldspieler mit Überblick im Spiel war und Hunderte von dichten, dunkelblonden Locken hatte wie ein Engel, machte das mit dem Alkohol zu schaffen. Er setzte sich wie jemand mit 60 in seine Ecke auf seinen Stammplatz und trank in aller Ruhe und nie zu schnell ein Bier nach dem anderen. Uns fiel überhaupt nie auf, wie viel er wirklich intus hatte, weil er langsamer soff und nie was sagte, aber dass er einer Karriere als Alkoholiker entgegen sah, war uns klar. Aber warum er das tat, wusste keiner. Es fragte auch keiner. Wenn ich nach dem Abendessen wieder dort auftauchte, saß Kalle immer noch in der gleichen Ecke. Wir kamen fast alle wieder zurück. In unserem Haus hatte ich ein Zimmer im Hochparterre und wenn es oben bei meinen Eltern ruhiger wurde, krabbelte ich rückwärts mit den Füßen voraus durchs Fenster die Hauswand runter und zurück in die Post und dann konnte die Nacht kommen.

Eddie war stets gut gelaunt, hatte viel zu erzählen und war auch sonst sehr kreativ. Ich erinnere mich an eine Beachparty, die am Wochenende stattfand. Er ließ mehrere LKW-Ladungen Sand ankarren und verlangte, dass die Gäste in Badehosen und Bikinis kamen. Es war ein rauschendes Fest. Ein anderes Mal feierte er „Zehn Jahre Eddie in der Post“ mit Preisen von vor zehn Jahren. Da ging die Post aber ab und das rauschte dann aber so richtig. In dieser Nacht mussten wir zeitweise um den Block herum für neue Getränke anstehen. Ansonsten hatte er Abende mit DJ oder irgendwelche Mottoparties, auf alle Fälle blieb ein Großteil unseres Taschengeldes bei ihm. Als ich mal pleite war, gab ich ihm meine Single-Schallplatten, weil man die Songs auch auf Longplayern hören konnte und sie schienen mir nicht unersetzbar. Es waren so um die 60 Scheiben und ich verkaufte sie ihm für 50 Mark und einen dreifachen Whisky – einer der schlechtesten Deals meines Lebens. Später vermisste ich die Scheiben so sehr, dass ich sie ihm zurückkaufen wollte, aber er hatte sie schon weiter vertickt. Das sah ihm ähnlich.

Er hatte viel Seele, war der geborene Kneipenwirt und er kannte alle Tricks, die es gab. Aber seine Gäste am Ende des Tages rauswerfen, das brachte er nicht fertig. In manchen Nächten – meist waren nur noch drei oder vier von uns da – stand er hinter der Theke, ein Bein eingeknickt, sein Kopf senkte sich in die Spüle und dann schlief er im Stehen ein. Wir hörten ihn schnarchen. Manchmal wachte er auf, öffnete ein Auge und sah sich um, ob alle noch gut versorgt waren und dann sank er wieder in seine Spüle. Aber er schmiss uns nie raus, niemals. Immer gegen Mitternacht schloss er die Eingangstür und wenn er wieder mal vor Müdigkeit kaum noch stehen konnte, sagten wir ihm, er soll sich ’ne Runde hinlegen und wir würden das schon machen hier mit der Theke und dem Bier und der Kasse und allem, aber darauf ließ er sich natürlich nie ein. Er lebte für seinen Job. An gewöhnlichen Samstagen, also an denen außerhalb von Parties in der Post, fuhr er uns nach Feierabend noch in eine Disco und das war ein fantastisches Angebot, denn er trank nie einen Schluck Alkohol und wir mussten nicht auf den Bus warten. Außerdem kamen wir in Begleitung eines Erwachsenen garantiert am Türsteher vorbei. Für uns war es aufregend, pulsierend, der Beat und die zuckenden Lichter der Stroboskopen gaben uns den absoluten Kick und Eddie schmiss uns sogar noch die erste Runde. Bald darauf verschwand er wieder und wir nahmen morgens den ersten Bus zurück. Es war eine fantastische Zeit mit ihm.

In den übrigen Nächten mussten wir natürlich anderntags in die Schule. Und ich war nicht der Einzige, dem Schule keinen Spaß machte. Wir zögerten den Moment, indem wir dann endlich gehen mussten, bis zur Unendlichkeit raus. Selbst Kalle war dann schon nach Hause, denn ein Schulschwänzer war er jedenfalls nicht. Wenigstens für eine Mütze Schlaf vor der Schule, schlich ich mich gegen Zwei oder Drei aus der Post zurück nach Hause, in den Vorgarten rein, zog mich an der Fensterbank hoch, drückte mich mit den Schuhen an der Hauswand ab und war zurück im Zimmer. Einmal war ich allerdings so spät dran, dass sich schlafen nicht mehr lohnte und Mama wunderte sich, dass ich morgens die Augen schon auf hatte. Sie war einfach unverbesserlich und hegte immer noch die Hoffnung, dass es vielleicht doch noch was mit mir werden könnte. An diesem Morgen schlief ich dann während des Unterrichts ein und die Lehrerin weckte mich mit dem erfreulichen Vorschlag, ich sollte besser zuhause schlafen – und so ging ich wieder, verschlief zurück aber prompt meine Haltestelle und fuhr im Bus zwei Extrarunden. Irgendwann fiel es den Alten aber auf. Ich hatte mich so oft mit meinen Turnschuhen an der Wand hoch gedrückt, dass man die Spuren an der hellen Hauswand sah und so wurden die nächtlichen Ausflüge vorübergehend eingestellt. Aber es ging eh mit dem Fußball und dann auch mit der Schule zu Ende. Und kurz darauf war auch bei Eddie Schluss.

Er übernahm eine andere Kneipe samt Festsaal und machte sein Geld jetzt mit Beerdigungen, Hochzeiten, Vereinsfeiern und Seniorengeburtstagen, was ihm ein Vermögen einbrachte. Er kaufte das Wohnhaus, in dem seine neue Kneipe war, den Festsaal und die angrenzende Turnhalle und ich hörte erst neulich, dass er das Zapfen aufgab und EinskommazweiMillionen dafür aufrief. Wenn ich heute an Eddies Post denke, blicke ich wehmütig zurück. Als es zu Ende ging, fiel mir der Abschied leicht – wie von den meisten Dingen in dieser Zeit. Es fühlte sich damals so an, als ob ich noch viele Jahre lang nachts zurück in mein Zimmer schleichen würde; nach Nächten, in denen ich mich unbesiegbar fühlte. Und überhaupt wurde mir das mit dem Container in die Schiffe stapeln zu langweilig. Mit einer Mark stundenlang am Videospiel zu sitzen war eine Sache, aber mit der Kleinen vom Supermarkt flirten, war eine ganz andere.

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