Überspielt

Die Ben-Trilogie (3)

Es gibt Menschen, die vergisst man nie. Ben war so einer. Und er war nicht nur kurz Teil meines Lebens. Ich hatte acht intensive Jahre mit ihm. Sein offensiver Umgang mit seiner Trinksucht war außergewöhnlich. Er war nicht der Typ, den man als seinen Freund bezeichnen könnte, dafür hatte er einfach zu viele Ausfälle und ich konnte mich grundsätzlich nicht auf ihn verlassen. Auch wenn er etwas zusagte, war entweder da oder eben nicht. Die Chance dazu stand ziemlich genau bei 50%. Und noch etwas an ihm war außergewöhnlich Er hatte ein großes Talent darin, einem klar zu machen, wie lächerlich die meisten Dinge im Leben sind und wie sehr es sich lohnt, darüber zu lachen. Wenn er loslachte, konnte man sich dem nicht entziehen. Man musste einfach mitlachen und das tat gut.

Wenn er das richtige Weizenbier-Level hatte, brachte er oft Züge aufs Schachbrett, die überraschten. Er konnte qualitativ weit über den Fähigkeiten spielen, die seine Wertungszahl ausdrückte. Das Bier war aber auch gleichzeitig sein Dilemma. Wie jeder mit literweise Flüssigkeit im Bauch, musste er ab und zu aufs Klo. Ich erinnere mich an ein Mannschaftsspiel, zu dem er erst zehn Minuten vor Ablauf der Zeitkontrolle am Brett erschien. Sobald er dran war, ließ er nach Sekunden einen Zug vom Stapel und schaffte es, seinem Gegner innerhalb von zehn Zügen eine Figur abzunehmen. Dann stellte der Andere das Spielen ein und zog erst wieder, wenn Ben gerade aufstand, um das Gesoffene wieder los zu werden. Der Gegner wartete, bis er an der Klotür war und kaum hatte Ben die Klinke in der Hand, zog er wieder. Also musste Ben wieder zurückkehren, denn er hatte ja nur noch Minuten für den Rest der Partie und führte seinen Zug blitzschnell aus. Dann ging er wieder Richtung Pissoir und kaum drückte er die Klinke, Zack, zog wieder der andere.

Das ging eine ganze Weile so und als er vom Klo zurück war, stellte der andere das Spielen wieder ein. Ben trank weiter. Irgendwann musste er wieder und das Hin und Her begann aufs Neue. Aufstehen, Klinke in die Hand, zurück ans Brett, ziehen, wieder aufstehen, zur Tür, wieder zurück. Nachdem Ben es zwei Mal in die Toilette rein und raus schaffte, hatte er dafür mit vier Minuten die Hälfte seiner restlichen Bedenkzeit verbraucht. Dann blieb er hartnäckig am Brett sitzen und wenn sein Gegenspieler nicht die Geduld verloren hätte, wäre dessen Strategie erfolgreich gewesen. Stattdessen hatten wir Glück und er bot Ben ein Remis an, das er auch annahm.

Ein anderes Mal spielte er eine Einzelmeisterschaft mit, an der mehrere aus unserem Verein teilnahmen. Er legte seine Partie lustlos an und es kam zum Endspiel mit ungleichfarbigen Läufern und auf jeder Seite blieben eine Handvoll Bauern. Ein klares Unentschieden. Da er jedoch Lust aufs Weiterspielen hatte und einem zehnjährigen Kind gegenüber saß, das die Lage nicht einschätzen konnte und auch weiterspielen wollte, zogen die beiden munter nochmals zwanzig Züge, wobei es Ben tatsächlich gelang, dem Kleinen drei Bauern abzunehmen, weil sich das Kind ungeschickt anstellte. Während dieser Zeit dachte jeder aus unserem Verein an Ben, weil wir wussten, dass ihn der Zeitverlust zum Bierholen nervte. Zufällig fiel es uns etwa zur gleichen Zeit ein. Binnen weniger Minuten hatte er vier volle Flaschen Bier am Brett, während das Leergut aus den vorigen vier Stunden Spielzeit gleichfalls, wie eine Pfandflaschen-Installation rund ums Brett stand. Ich räumte Leergut in einer Menge ab, das heute jeden Pfandflaschensammler glücklich machen würde und sah ihm zu. Inzwischen sah es nach klarem Punktgewinn für ihn aus. Ben freute sich über unseren Service. Er schlug nie ein Freibier aus. Aber weil er ein langsamer und steter Trinker war, führte die unerwartet verfügbare Menge an kostenlosem Gerstensaft zur deutlichen Überdosierung und er ließ die einzige Figurenbewegung, die der Kleine noch hatte, nämlich das ständige Vorrücken seines Randbauern so lange zu, bis die Umwandlung zur Dame nicht mehr zu verhindern war. Er hatte einfach vergessen, seinen Läufer dazwischen zu ziehen und verlor die Partie noch. Er war aber auch der Erste, der lautstark drüber lachen konnte.

Ab einem bestimmten Zeitpunkt seines Lebens änderte sich sein Verhalten ziemlich unerwartet. Was es genau auslöste, hat bis heute niemand von uns verstanden. Er war jetzt öfter unberechenbar, als zuvor. Wenn er mit uns diskutierte, wurde er plötzlich aggressiv, was damit endete, dass er einfach verschwand. In den letzten beiden Monaten seines Lebens sahen wir ihn kaum noch. Er zog sich komplett zurück und fing vor seinem Tod damit an, alle Freunde anzurufen, sich am Telefon aber nicht zu rühren. Ich hörte ihn atmen, sprach ihn an, fragte ihn warum. Er antwortete nicht. Irgendwann sagte ich, ich müsse jetzt auflegen und tat das auch. Einige Tage später fand man ihn früh morgens auf dem Asphalt vor dem Haus, in dem er wohnte, den Kopf blutig aufgeschlagen. Entweder sprang er bewusst aus dem Fenster, ließ sich einfach rausfallen oder schlief auf dem Fensterbrett in der dritten Etage ein. Jemand sah ihn dort einige Zeit zuvor sitzen, was nichts außergewöhnliches war, er kehrte auch schon mal betrunken ohne Schlüssel in die Wohnung zurück, indem er über die Fassade der Sparkasse nebenan kletterte. Jedenfalls saß er dort sehr lange, mindestens zwei Stunden lang vor seinem Tod.

Sein Lachen kann ich heute noch hören.

 

 

 

 

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