Die besten Alben der Pop- und Rockgeschichte – eine subjektive Auswahl
Heute: Radio K.A.O.S. – Roger Waters (1987)
Teil 10: BLUE LINES
Teil 9: SONGS FOR DRELLA
Teil 8: DAMALS HINTERM MOND
Teil 7: TRACY
Teil 6: BACK IN BLACK
Teil 5: NEWS OF THE WORLD
Teil 4: EXILE ON MAIN STREET
Teil 3: NINA HAGEN BAND
Teil 2: RUMOURS
Teil 1: MAKING MOVIES
Es gibt so viele, die dem ursprünglichen Stil nachtrauern, der Phase, in der Syd Barett und David Gilmour den Sound prägten, bevor Pink Floyd Mitte der Siebziger zu der Band wurde, die eine Art Götterstatus erlangte, sobald jemand die Stilrichtung Psychedelic Sounds erwähnte. Erstaunlich für eine Band, die – verglichen mit den Rolling Stones – lächerlich wenig Alben produzierte. Aber etwa in der Hälfte der Bandhistorie, spätestens ab „Dark Side of the Moon“ wurde Roger Waters zum personifizierten Stil der Band, der den Sound prägte, der Pink Floyd zu den Superstars machte, die sie wurden. In jeder ihrer Platten erkenne ich seinen Einfluss, der immer stärker wurde. Dass er später einen Haufen Schwachsinn aus dem Repertoire der antisemitischen Verschwörungstheorien von sich gab und sogar seine ehemaligen Bandkollegen verklagte, damit sie nicht mehr unter dem Namen Pink Floyd auftreten, mindert seine musikalische Leistung in keiner Weise. Als Radio K.A.O.S. 1987 erschien, sein erstes Album nach der Trennung von der Band, unterschied sich der musikalische Eindruck höchstens in Nuancen von den Pink Floyd Alben. Aber auch der Rest der Band – dies nur am Rande – veröffentlichte nach der Trennung mit „A Momentary Laps of Reason“ ein Album, das sich immer noch zu hundert Prozent nach ihm anhörte. Pink Floyd wurde zu seiner Marke, zu einem Synonym für sein Werk.
Radio K.A.O.S. ist ein sogenanntes Konzeptalbum (wie übrigens Pink Floyds The Wall auch), ein Album, bei dem die aufeinander folgenden Stücke in einem konzeptuellen Zusammenhang stehen. Natürlich schrieb Waters alle Texte und die komplette Musik selbst und hatte bei der Aufnahme nur dort Nachhilfe, wo ein anderer das Instrument noch besser spielen konnte, beispielsweise bei den Bläsern im Stück Sunset Strip.
Ich versuche, die Geschichte kurz zu fassen: Es geht um Benny und Billy, zwei Brüder, deren Leben vor der Ära Thatcher noch in Ordnung war. Benny arbeitet als Bergarbeiter und schleppt mit seinem kleinen Gehalt nicht nur seine eigene Familie durch, sondern auch seinen geistig und körperlich behinderten Bruder Billy. Als die Mine schließen muss (allein 1984 wurden von der Regierung Thatcher die Hälfte der 176 Bergwerke stillgelegt), kann er seine Familie nicht mehr ernähren und eines Nachts beteiligt er sich an einem Überfall auf einen Elektronikladen. Er erbeutet ein leistungsstarkes Funkgerät, das er Billy gibt. Später wird Benny zu Unrecht bezichtigt, einen Felsbrocken auf die Autobahn geworfen zu haben. Aber weil es Zeugen gibt, die ihn und seinen Bruder auf der Brücke sahen, wird er zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Billy zieht nach Kalifornien zu Onkel Dave, der wiederum von Gewissensbissen über seine frühere Arbeit geplagt wird, der Mitarbeit am Manhattan-Projekt des Zweiten Weltkriegs – der Entwicklung der Atombombe. Er kümmert sich liebevoll um Billy, der Fortschritte macht. Mit dem mitgebrachten Funkgerät schafft es Billy, leistungsstarke Computer zu manipulieren, er nutzt jetzt auch selbst Computer, Sprachsynthesizer und lernt sprechen. Billy freundet sich mit dem DJ von Radio K.A.O.S. an und telefoniert direkt oft mit ihm live im Studio, während der unabhängige Sender K.A.O.S. versucht, sich mit einem alternativen Programm vom Mainstream abzuheben. Zum Schluss des Albums gibt der Sender mit Hilfe von Billy die Parole aus, sich gegen die Autokraten und die menschenfeindliche Politik der Welt zu erheben. Der Männerchor der Bergarbeiter setzt ein und unterstützt eindringlich die Hoffnung mit: The Tide is Turning (sprichwörtlich: Das Blatt wendet sich).
Das alles hört sich nicht nur politisch an. Die ganze Platte ist ein Manifest gegen das Unrecht, wie es Benny und Billy erfahren. Insbesondere Billy, dem es niemand zugetraut hat, schafft es, sich mit seinen Manipulationen gegen die geldgesteuerte Gier zu wenden, welche die Welt an den Rand des Abgrunds trieb. Ich weiß nicht, was Waters damals noch so geschrieben hätte, wenn er Trump und Putin und den Turbokapitalismus unserer Tage schon gekannt hätte. Aber in einer Welt ohne Internet, Kryptowährungen und durchgedrehten Autokraten, war der Bergarbeiterstreik von 1984 ein bedeutendes Ereignis, das mittelfristig auch zur politischen Veränderung der Weltlage führte, zumindest aber ein ernst zu nehmendes Zeichen war. Die Schließungen schwächten die Gewerkschaften Großbritanniens, weil sie ohnmächtig mit ansehen mussten, wie die Gesellschaft über ihre Köpfe hinweg neu strukturiert wurde.
Das beste an Radio K.A.O.S. – neben dem fantastisch arrangierten Sound – ist aber, dass man das alles gar nicht wissen muss. Es ist, als ob man beim Hören eine Reise durch seine eigenen Gefühlswelten unternimmt. Jeder einzelne Song drückt ein Lebensgefühl aus und es fällt leicht mitzufühlen, was die Protagonisten durchmachen. Waters gelingt es, dass man zuhört. Dass man interessiert daran ist, was da gerade geschieht. Auch bei Pink Floyd will ich oft einfach nur zuhören, mich keinesfalls ablenken lassen. Aber bei dieser Platte ist es vollkommen ausgeschlossen, irgendetwas anderes zu tun. Okay, ich singe inzwischen das ganze Album über alle Texte hinweg mit. Das aber wirklich nur, weil ich mir den Luxus des stillen Genusses schon hundert Mal zuvor gegönnt habe. Radio K.A.O.S. ist ein Gesamtkunstwerk. Die Songs gehen nahtlos ineinander über und der monumentale und orchestrale Sound, geprägt von düsteren Bässen und mindestens zwei Dutzend Instrumenten ist phänomenal arrangiert – ein Meisterwerk. Dazu kommen die Waters-typischen Einspieler, die selbst Hundegebell oder Polizeifunk zum Teil der musikalischen Botschaft machen, das alles ergibt eine Faszination, von der man sich nur schwer lösen kann. Man MUSS einfach hinhören. Selbst auf dem Plattencover sind dechiffrierte Morsezeichen, die Botschaften enthalten. Auf dem ersten und dann auf dem letzten Stück (Tide is Turning) hört man sie wieder, die Morsezeichen. Dieses Mal tickern sie eine ganz spezielle Botschaft von Billy: „Jetzt ist die Vergangenheit vorbei, aber du bist nicht allein. Gemeinsam werden wir Sylvester Stallone bekämpfen. Wir lassen uns nicht in sein Südchinesisches Meer aus Macho-Bullshit und Mittelmäßigkeit hineinziehen“. Wenn das mal nicht Grund genug ist, um drüber nachzudenken!
1) Radio Waves
Das allumspannende Thema des Konzeptalbums. Tatsächlich ist es Billy, der all diese Wellen interpretieren kann.
2) Who needs Information?
Tja, wer braucht eigentlich Informationen – wenn er unter Tage arbeitet? Oder in ständiger Angst?
3) Me or Him
Bennys vergeblicher Versuch, seinen Vater um Vergebung zu bitten. Er hatte keine Chance, seine Unschuld zu beweisen. Für ihn gab es nur die Entscheidung, sich selbst schuldig zu sprechen oder seinen behinderten Bruder Billy.
4) The Powers that be
Ein Statement gegen Gewalt, Politik, Korruption und die Erkenntnis, dass wir uns nicht wehren können, so lange die Macht mit ihnen ist.
5) Sunset Strip
Billy liebt die Freiheit bei Onkel Dave in Los Angeles. Bei ihm lernt er schließlich, dass er sich wehren muss
6) Home
Everybody got something he calls home!
7) Four Minutes
Der Turn-Around für Billy. Er schafft es mit eigenen Mitteln, Chaos (K.A.O.S.) zu streuen.
8) Tide ist turning
Zuversicht kehrt ein. Das Blatt wendet sich. Billy ist der unbekannte Held.
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