(Bild von Peggy auf Pixabay)
Ich hab an dieser Stelle oft darüber nachgedacht, warum sich die Zeiten so verändert haben und es so wenig ‚politische‘ Schüler und Jugend gibt. Aber gerecht ist das nicht. Diejenigen, die heute für ein besseres Leben, für Freiheit, Gerechtigkeit und überhaupt für unsere Erde kämpfen, die sind nicht nur politisch im Sinne ihrer Interessen, sondern mitunter weitaus mutiger. Ich denke da an Carola Rackete oder Greta Thunberg oder an all die Einsätze von Greenpeace, draußen auf dem Meer, die unter Lebensgefahr zeigen, dass wir am Abgrund stehen – so ziemlich mit allem. Aber es sind eben nicht viele, die so auffallen. Es ist ihnen eigentlich ziemlich wumpe, was um sie herum passiert.
Ich frage mich auch, was mit mir selbst passiert wäre, wäre ich einer der Gen Z, die den rasanten Zulauf zur faschistischen AFD quasi schon im Schulalter erlebt hat. Mein Kampf sah damals noch ganz anders aus. Ich wehrte mich mit Teilnahmen an Ostermärschen, ich trug selbstgestrickte Wollpullis mit Anti-AKW Stickern und rief „Schwerter zu Pflugscharen“, wenn der Offizier der Bundeswehr in die Schule kam, um uns von der Wehrpflicht zu überzeugen. Später setzte ich mich auf Bahngleise oder vor die chemischen Waffenlager, half dabei mit, in Wackersdorf und Gorleben Waldhütten zu bauen, aber vor allem war ich eins: Nämlich wütend. Wütend über unsere Ohnmacht und auf die Polizeigewalt, wütend darüber, dass vierzig Jahre nach Kriegsende immer noch Nazis unterm Volk waren. Wütend, dass es immer nur um Geld und Macht und Ordnung ging, aber nie um die Anmut von Seekühen oder gegrillte Mashmallows am Lagerfeuer.
Ich war sowas von wütend, dass ich keine Gelegenheit ausließ, meinen politischen Feinden den Stinkefinger zu zeigen. Zum Beispiel 1982, als wir mit der Schulklasse in Bonn waren, um den Bundestag zu besuchen. Das war nichts ungewöhnliches, das gehörte einfach zur politischen Bildung. Aber damals war es noch übersichtlich. Helmut Kohl, den wir alle Birne nannten und später nur noch liebevoll „dicker, blöder Pfälzer“, hatte sich noch nicht zum Kanzler geputscht und es gab nur drei Parteien im politischen System. Die Grünen waren gerade erst gegründet und nur, um den vorherrschenden Geist mal zu realisieren: In jedem anderen europäischen Land gab es eine Partei links von Sozialdemokraten, nur bei uns war das so, als ob der Leibhaftige den Weltuntergang pries. Und in diesem politischen Mief der Achtziger, als Arbeitslosigkeit noch als Krankheit galt und die Serie Dallas als das Aufregendste im Fernsehen, da besuchten wir den deutschen Bundestag. Es war genau zu dem Zeitpunkt, als überall neue Atomwaffen ins Land geliefert wurden und es war einer der Tage, an denen mein größtes und abscheulichstes Feindbild, Franz Josef Strauss, im Parlament reden durfte.
Der König von Bayern, der als Verteidigungs- und Finanzminister die Weichen für die Wiederaufrüstung selbst gestellt hatte, der für den Spiegelskandal verantwortlich war, das Verbreiten der Wahrheit verbieten wollte, der sich aus jeder seiner Skandale mit Lug und Trug befreite, der seinen Freunden ungestraft Millionenaufträge zuschusterte, der den Starfighter zum Milliardengrab machte, ausgerechnet der sollte an diesem Tag reden! Thema war der NATO-Doppelbeschluss und Strauß hatte die Aufgabe, die Fraktion auf Linie zu bringen. Er sollte als politisches Schwergewicht ein Zeichen setzen, dass diese Republik bedingungslos dem amerikanischen Willen folgen wird. Ich wusste genau, was ich zu tun hatte und setzte mich auf der Zuschauertribüne in die erste Reihe.
Er kam gerade so richtig in Fahrt. Sein Gesicht hatte dann immer so eine glühend rote Farbe, seine Schweinsaugen wurden immer kleiner und verkniffener, seine Wortwahl immer drastischer und sein Kopf ruhte halslos auf seinem Dreifachkinn, nur seine Schultern zuckten auf und ab und er stampfte dann immer seinen ganzen fetten, massigen Körper wie Rumpelstilzchen in den Boden. Je länger er redete, desto schlimmer wurde es. Ein einziger, schwerfälliger Brei aus Hass und Hetze, jedes Wort ein ekelhafter Auswurf wie Pest, die sich im Saal breit machte. Ich hielt es einfach nicht mehr aus. Hätte ich den Mut gehabt, ein faules Ei oder eine Tomate mit reinzuschmuggeln, hätte ich es versucht, aber wahrscheinlich nicht weit genug werfen können. Immerhin gab es Kameras im Bundestag, mit etwas Glück würde ich es in die Tagesschau schaffen. Die Ordner rundum, die alle wie Pinguine aussahen, sahen sofort zu mir hin, als ich aufstand. Mein Herz raste wie wild, ich krempelte meine Ärmel hoch und dann brachte ich es einfach. „Du verdammter Kriegstreiber, Du elender Lügner!“ schrie ich so laut ich nur konnte, „Du faschistisches Schwein! Sieh zu, dass Du Land gewinnst“, legte ich lautstark nach und dann waren sie auch schon da, die Pinguine. Sie zerrten mich aus der Reihe und ein paar einzelne Abgeordnete drehten sich noch nach oben zur Tribüne um.
Tatsächlich passierte mir überhaupt nichts. Ich war nicht mal volljährig. Ein paar Ermahnungen vom Sicherheitsdienst des Bundestags und schon war wieder alles vergessen. Nur die Schulleitung fühlte sich bemüßigt, mal wieder einen blauen Brief zuzustellen. Aber die sammelte ich ja sowieso. So war das damals. Und jetzt frage ich Euch: Wann habt Ihr zum letzten Mal bei einer politischen Debatte einen von der Tribüne aus rufen hören? Dieses ganze Geschwätz von der Brandmauer, die nicht fallen darf, regt das in der Schule eigentlich noch irgendwen auf?
*
*
*
*************
*
Hinweis: Teile des Textes standen schon mal hier:
Deutschland, einig Vaterland
*
