Der Himbeerkönig

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Acht Mark Taschengeld. Für einen Fünftklässler war das kein Reichtum, aber man hätte sich davon 400 Himbeerbonbons leisten können. Und das pro Woche! Ich ließ mir die Sache durch den Kopf gehen. Pro Jahr wären das mehr als 20.000 gewesen. Wenn ich sie neu verpackt und den Preis verdoppelt hätte, wäre ich der Himbeerkönig der Stadt geworden. Seit der Taschengelderhöhung von 1976 schwirrten mir öfter solche Geschäftsideen in der Birne rum. Immerhin wäre unterm Bett genug Stauraum gewesen. Aber irgendwann wäre Mutti dahinter gekommen und ich hätte mich erklären müssen und dann hätte es wieder geheißen: "Was hast Du Dir denn dabei nur gedacht und wo soll das alles hinführen?"


Jaja. Kannte ich ja schon seit dem Versuch, einen landwirtschaftlichen Kleinbetrieb im Kinderzimmer zu führen. Sind mir sofort die familiären Subventionen gestrichen worden. Das war, als ich eines Mittags auf dem Markt den Stand mit den süßen Flauscheküken zu 50 Pfennig entdeckte. Zwei werdende Hühner zu einer Mark? Ich rechnete kurz durch: Pro Woche zwei Küken plus Futter macht in ein paar Monaten 40 Eier pro Tag und Zack, wäre ich der Eierkönig der Stadt geworden. Und da hätte ich aber locker noch vier Himbeerbonbons pro Tag gelutscht! Leider kam mir die Landwirtschaftsministerin in die Quere und hinderte mich an der großen, kinderzimmerlichen Agrarreform. Ich musste die beiden Flauschis wieder reuevoll zum Markt zurücktragen.


Das kam ja immer wieder mal vor, dass ich mich in meinen Businessplänen ausbremsen ließ. So brachten wir es zu nix. Mutti hatte eine Stelle als Sklavin eines Bankenkonzerns angetreten. Morgens bekam ich mein Schulbrot und den Schlüssel in die Hand gedrückt und dann hatte ich die Schulzeit und den Nachmittag über genug Zeit, um mir Gedanken über das große Ganze zu machen. Eins war klar: Ich musste mitreden können, um meine Ideen gewinnbringend und überzeugend umzusetzen. Dazu brauchte es mehr Input. Also investierte ich in Nachrichten. Am Kiosk vor der Bushaltestelle gab es eine größere Auswahl an Zeitungen. Jeden Morgen las ich die Preise auf den Kopfzeilen, aber das wollte alles nicht so recht zu meinem Taschengeld passen. Nur ein einziges Blatt, das mit den fetten roten und schwarzen Buchstaben schien ins Budget zu passen. Es kostete 25 Pfennig. Also war ich damit erst mal gut versorgt.


In völligem Bewusstsein, dass ich der einzige elfjährige Schüler war, der neben seiner Schultasche mit einer Zeitung in den Bus zur Schule stieg, suchte ich mir einen Platz im hinteren Teil des Wagens und fächerte das Blatt durch. Jeden einzelnen Tag. Ich versuchte zu verstehen, was ich da las und manchmal gelang mir das auch. Erst sehr viel später wurde mir bewusst, dass ich in einer politisch höchst spannenden Phase, in der die RAF ihre Kreise zog und Helmut Schmidt im Amt bestätigt wurde, die Schlagzeilen studierte. Es waren die Zeiten des libanesischen Bürgerkriegs und das Ende von Mao Zedong in China, Perón wurde in Argentinien unter Hausarrest gestellt, Honecker wurde Staatsratsvorsitzender, Jimmy Carter Erdnusspräsident und Ulrike Meinhof starb erdrosselt in Stammheim. Komisch, dass von all dem niemand was wissen wollte, wenn ich es auf dem Schulhof erzählte.


Aber als eine deutsche Hostess namens Silvia Sommerlatte den schwedischen König rumkriegte, da war dann "Wir-sind-Königin". Aber überall. Und tagelang in fetten Schlagzeilen. All das las ich in jenen Tagen. Ich fraß die ganzen Informationen nur so rein, aber es half mir nicht wirklich auf der Suche, wie ich meinen wöchentlichen Etat am klügsten investieren sollte. Es gab auch keine schwedische Königin, die ich hätte heiraten können. Aber ich hätte sie über die Weltlage aufklären können. Jedenfalls in roten und schwarzen Großbuchstaben. Manchmal standen da auch solche Sachen, wie "Mann beißt Hund" oder "Heino gesteht: Schwarzbraun ist meine Nuss". Aber niemals, wie man mit acht Mark König wird. Dann kam auch noch der Tag, an dem eine Gruppe Abiturienten in den Bus stieg und anfing, lautstark über den kleinen Jungen mit dem Revolverblatt zu lästern. Ich wusste nicht, was sie damit meinten. Aber es gefiel mir natürlich nicht, wie sie über mich redeten.


So gingen noch mehrere Monate ins Land, bis ich, gerade Zwölf geworden, begriff, dass ich mit dem Drei-Groschen-Blatt keinen Blumentopf gewinnen konnte. Aber dann nahm meine Informationswut eine schicksalhafte und wundersame Wendung und mir wurde durch einen Zufall auf eine sehr unerwartete Art und Weise bewusst, dass nichts umsonst war. Ich fand auf dem Sitz neben mir ein kleinformatiges Heft mit etwa einhundert sehr dünnen, dicht bedruckten Seiten. Der Verlag Zweitausendeins warb darin für Wallraffs "Aufmacher – der Mann, der bei Bild Hans Esser war". Ich zählte mein Taschengeld zusammen, legte zwölf Mark auf den Tresen des Buchhändlers, kaufte mir vom Wechselgeld zwei Himbeerbonbons und begann zu lesen, wie man schreibt.

 

 

 

 

 

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