Das Schwert des Damokles

Bild: Maddalena Barblan, Pixabay

Es war ein wunderbarer Sommer, dieser Sommer 88. Wir verbrachten ihn in Bordeaux, weil wir unbedingt an den Atlantik wollten und ich liebte den französischen Rotwein aus der Region. Außerdem war ich noch immer unsterblich in Betty verliebt, aber es würde früher oder später Ärger geben. Ihre Herkunft war viel zu bürgerlich, als dass die Unterschiede nicht irgendwann einen von uns fertig machten. Ihre schwäbischen Eltern wollten mich nicht, weil ich vom Häusle bauen nichts hielt und außer gutem Sex hatte ich ihrer Tochter nichts zu bieten. Und das war ihnen wahrscheinlich auch egal. Nachts, wenn ich satt von der Sonne und dem Wein und dem Leben im Paradies war, kroch ich ins Zelt und drückte mich an ihren warmen Arsch, während die Pinien rundum einen wunderbaren Duft verströmten und wir dem Rauschen des Meeres zuhörten. Es waren die letzten drei wunderbaren Wochen einer Monate langen, freien Periode zwischen Zivildienst und Job. Danach würde ich bis zur Rente den geistig qualvollen Tod eines Sesselfurzers sterben. Jedenfalls fühlte es sich für mich so an, weil ich im Archiv des örtlichen Arbeitsamtes antreten sollte – exakt einen Tag nach unserer Rückkehr. Dieser Schatten hing bedrohlich und schwer über mir und unserer Reise, aber ich verdrängte den Gedanken immer wieder erfolgreich, wobei mir der Médoc, lecker, opulent und nach reifen Früchten schmeckend, gut über die Runden half. Es gab ihn im Supermarkt direkt aus dem Fass. Man musste nur ein geeignetes Gefäß mitbringen und zahlte an der Kasse für einen lächerlich geringen Preis, was man sich aus dem Fass gezapft hatte.

Das für uns am besten geeignete Gefäß war in diesem Fall ein 5-Liter-Kanister, den wir mehrmals nachfüllten und als die Tage am Atlantik sich dem Ende zuneigten, zapfte ich den Kanister nochmal richtig schön voll, auf dass er uns die Zeit vertreibe – und vor allem die Sorgen, die mir das Schreckgespenst eines bezahlten Lohnsklaven bereitete. Von jetzt an für immer nur noch Trott und Langeweile und jahrelang im Voraus geplante Kurzreisen, dachte ich. Keinen Highway 66 oder quer durch Afrika im Jeep, keine wochenlange Fahrt im Orient-Express und das mit Indien konnte ich mir wohl auch abschreiben. Es war ein Damokles-Schwert, das mich am nächsten Tag mit voller Härte treffen würde. Betty sagte, ich solle fahren, was mir recht war, weil sie von ihrem fetten Papa einen fast neuen, knallroten Golf geschenkt bekam und jedes Mal wenn das Glas in der Mittelkonsole leer war, hielt ich es ihr hin und sie goss vorsichtig was von dem köstlichen Gesöff nach. Ich trank nur sehr wenig, aber stetig, ließ mir Zeit dabei und fühlte nach, wie sich der Wein in meinem Körper breit machte, während die südfranzösische Landschaft an uns vorbei zog.

Noch fühlte es sich gut an, aber als der Kanister dann aber immer leichter und ich zunehmend melancholischer wurde, begann sich Betty Sorgen zu machen, was natürlich auch mit dem gelassenen Fahrstil in Verbindung stand, weil ich zunehmend auf Brems- und Blinkmanöver verzichtete. Ich ließ den Golf rollen und genoss den Médoc. Er schien sogar immer besser zu werden, je länger die Fahrt dauerte. Und wenn Betty das auch getan hätte, wäre sie wesentlich entspannter gewesen, als ich die erste rote Ampel verpasste und von da an übernahm sie das mit dem Lenken und so. Mit steigendem Alkoholpegel dominierte jetzt mehr und mehr die Angst vor einem Leben, das alle anderen geregelt nannten, aber für mich die Vorstellung blanken Horrors bedeutete. Was konnte ich mit dem mickrigen Lohn schon anfangen, wenn es keine Zeit mehr gab, das Leben zu genießen? Und überhaupt. Wenn wir noch mehr als drei Monate miteinander aushielten, würden wir wahrscheinlich heiraten und drei Kinder zeugen müssen. Grauenhafte Bilder zogen durch meine Gedanken, die sich größtenteils mit Familienfeiern, Eigenheimen und dem jahrzehntelangen Abzahlen von Krediten beschäftigten. Wie komme ich aus dieser Nummer nur wieder raus, dachte ich. Und goss mir was nach. Diese Grüblerei nahm schließlich überhand, aber weil der Rotwein so fantastisch war, geriet ich in eine faszinierende Schleife übertriebener Selbstkritik, weil ich mich ständig damit fertig machte und mich für meinen Mut wiederum mit dem leckeren Wein belohnte. Dann endet meine Erinnerung. Irgendwo kurz vor Dijon.

Ich weiß auch nicht mehr, wie ich es in mein Bett schaffte, wo ich meine ganzen Sachen gelassen hatte, wo eigentlich Betty war und wieso morgens dieser Wecker einen solchen Höllen-Lärm machte, aber ich musste um Neun dort sein – und jetzt war es Acht und ich hatte einen Kater, der es in seinen Ausmaßen locker unter die Top Ten schaffte. Ganz kurz nur kam mir der Gedanke, ich könne mich ja krank melden, aber dann quälte mich wieder dieses MÜSSEN, damit mich Betty und ihre Spätzle nicht für einen Versager hielten. Ich schaffte es gerade noch, mir was anzuziehen und als ich dort ankam, erwartete mich der große Chef vom Ganzen und der bestrafte mich dann für meine Trunkenheit auf eine äußerst grausame Art und Weise. Er rügte mich nicht für meine Verspätung, er machte keine Bemerkung über meine Klamotten und obwohl ich vermutlich aussah, als hätte mich jemand vor Sekunden aus dem Tiefschlaf gerissen, ließ er auch das links liegen.

Nein, er bestrafte mich mit in den kommenden zweieinhalb Stunden damit, dass er mit lauter, durchdringender und ekelhaft nach Militär klingenden Stimme einen Vortrag über die Gründung des Arbeitsamtes, über die Entwicklung der Beschäftigtenzahlen in den letzten drei Jahrhunderten und über die speziellen Aufgaben seiner Abteilung im Allgemeinen und über die des Archivs im Besonderen hielt. EIN ARCHIVAR HAT EINE SEHR GROßE VERANTWORTUNG rief er, und MUSS DABEI SEHR KONZENTRIERT SEIN! Es schallerte in meinen Ohren, als ob er in ein Megaphon rief in einer Lautstärke, die mit einem Presslufthammer locker mithielt. Sein Geschrei löste eine Schmerzwelle nach der nächsten aus – und vor allem: Ich hatte einen unfassbaren Brand! Ich hätte locker einen zehn Liter Eimer Wasser ausgesoffen, wenn er vor mir gestanden hätte und ich trocknete bis in die tiefsten Windungen meines Körpers aus wie ein Ertrinkender in der Wüste, der von einem Megaphon angeschrien wird. Masochistisch gekonnt hielt ich durch bis zum bitteren Ende. Ich sah ihn jetzt auch nicht mehr an. Ich kniff nur noch die Augen zusammen und versuchte nicht komatös vom Stuhl zu kippen, während ich verdurstete.

Als es Mittag wurde, hatte er mir all sein Wissen über Aktenordner, Schnellhefter, Papierläuse und preußischer Disziplin um die Ohren geschmettert. Und dann verkündete er den Gang in DIE HEILIGEN HALLEN DER KANTINE, wo wir miteinander essen würden. Kantine, dachte ich. Wasser, flüsterten meine Gedanken. Wasser. Köstliches, deutsches, preußisches Wasser. Ich folgte ihm und betete, dass es dort riesige Wasserflaschen gäbe, von denen ich mir mindestens eine krallen und sie dann, mit Glück sogar unbeobachtet, in einem Zug leersaufen würde. Als wir in der Warteschlange standen, fiel mir auf, dass es in der Kühlung nur diese mickrigen, portionierten Flaschen gab, also ließ ich etwas Abstand zu meinem Peiniger und wartete, bis er mit Zahlen durch war. Dann ging ich zum Kühlregal, schaufelte mir zehn von diesen lächerlich winzigen Flaschen aufs Tablett und zur Sicherheit nochmal drei von den Säften – und balancierte das Tablett zur Kassiererin, die mich ansah, als ob ich gerade was völlig Absurdes von ihr verlangte. Aber ich verzog keine Miene. Saufen. Dachte ich. Saufen.

Ich war nicht mal mit dem Bezahlen durch, da hörte ich ihn schon. HIERHER rief er – ICH SITZE HIER. Na gut. Das kann er haben. Ich kellnerte die Flaschen zum Chef, setzte mich ihm gegenüber, kramte mein Feuerzeug aus der Tasche und ploppte die komplette Reihe an Kronkorken nacheinander auf, dass es nur so schallerte. Er beobachtete mich dabei – ich konnte es spüren – , sagte aber keinen Ton. Dann hob ich die erste an und soff die ganze Riege der winzigen Flaschen nacheinander und ohne Pause leer und erst als ich an der neunten oder zehnten ankam, wartete ich fünf Sekunden, weil ich rülpsen musste. SIE HABEN ABER EINEN DURST schrie er. Nein, sagte ich ungerührt. Völlig normal. Ich mache das immer morgens so. Erhöhter Flüssigkeitsbedarf, erklärte ich ihm. Wegen Jodmangel und so.

Ich genoss die entstandene Pause, weil ihn das endlich mal zum Schweigen brachte. Außerdem schien er den Auftritt irgendwie zu bewundern, was mir gefiel. Anschlusstreffer. Ich sah mich um. Keiner sonst an den übrigen Tischen schien das bemerkt zu haben. Als er mit dem Essen fertig war, nahm ich sicherheitshalber den zuletzt noch übriggebliebenen Saft mit, aber außer das er mir noch lauthals alle Kollegen vorstellte, ließ er das mit dem Foltern jetzt sein. Schon nach wenigen Wochen brachte ich ihnen das Archiv auf den best sortierten Stand, den sie in den letzten dreihundert Jahren erreicht hatten. Monate später waren Betty, Bordeaux und Medoc nur noch eine schöne Erinnerung, da verabschiedete er mich wie ein General beim Zapfenstreich und sprach mir vor versammelter Mannschaft seinen höchsten Respekt für meinen Einstandstag aus. ICH HAB ECHT SCHON VIEL GESEHEN – ABER DAS HAT MIR IMPONIERT. Siehste, sagte ich, das sind Qualitäten, die man als Sesselfurzer erst mal lernen muss. Soweit ich mich erinnere, schrieb er mir sogar das beste Zeugnis aller Zeiten. Aber das war mir egal. Ich vermisste Bettys warmen Arsch.
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