Das Paris-Syndrom

„Als Paris-Syndrom (französisch syndrome de Paris, japanisch パリ症候群 Pari shōkōgun) wird eine vorübergehende psychische Störung bezeichnet, die meist Japaner beim Aufenthalt in Paris trifft. Es handelt sich um ein kulturgebundenes Syndrom, das ähnlicher Natur ist wie das Stendhal- und das Jerusalem-Syndrom, nicht jedoch um eine anerkannte Diagnose (nach ICD-10 oder DSM-IV). Als Auslöser des Paris-Syndroms gilt die starke Differenz zwischen der Erwartungshaltung der Touristen und der Realität der Stadt.“ (Wikipedia)

Wann genau ich zum ersten Mal mein eigenes Paris-Syndrom spürte, weiß ich nicht mehr ganz genau. Es war vielmehr eine Kombination mehrerer Aufenthalte und Erlebnisse, die mich davon überzeugten, daran zu leiden. Genau genommen ist es nicht meine Krankheit, weil mir die Stadt ganz genau das gab, wonach ich suchte, aber das mit der Erschöpfung – das kann ich nachvollziehen. Bei mir wirkte es sich jedenfalls so aus, dass ich süchtig nach der Erschöpfung wurde, immer öfter immer mehr von Paris zu sehen. Bestärkt hat mich dabei, dass die Zahl an sehenswerten Orten in dieser Stadt gegen schier unendlich zu laufen scheint.

Als Kleinstädter, dem das beschränkte Leben in der Pubertät erst so richtig beim Erwachsenwerden bewusst wurde, hatte ich eine verschärfte Neigung zur großen Stadt, zur Anonymität und zum Untertauchen, da ich mich sowieso permanent unverstanden fühlte. Außerdem wollte ich was von der Welt sehen und da die französische Hauptstadt nur 400 km entfernt war, wollte ich unbedingt hin. Beim allerersten Besuch deutete noch nichts auf das Syndrom hin, da war ich erst 13 und verbrachte die wochenlangen Ferien auf einem Camping-Platz außerhalb der Stadt. Ab und an fuhren wir ins Zentrum, um uns dies oder das anzusehen. An den Besuch des Arc de Triomphe erinnere ich mich noch sehr genau. Aber außer, dass es sehr viele Menschen und sehr viele Métro-Stationen waren, blieb damals noch nicht viel hängen. Aber ich halte es für möglich, dass hier unbewusst eine Art Initialzündung stattgefunden hat, an die ich mich erinnerte, als ich sie mit 15 wieder brauchen konnte. Meine Schule organisierte einen Schüler-Austausch mit der Partnerstadt Gisors. Das läge bei Paris sagte man uns und von da an erzählte ich meinen Freunden, ich fahre jetzt nach Paris. Alles andere drumherum zählte überhaupt nicht, obwohl ich mich in eine der süßen Französinnen im Dorf verliebte und gleich darauf nochmal in eine andere und ehe ich mich versah, legte ich stolz meinen Arm um ein blondes Mädchen, am Place St Pierre in einem Café sitzend und die Sacre-Coeur fest im Blick, wissend, dass von nun an diese Welt die meine ist.

Mit knapp 17 wiederholte ich den Besuch bei meinem französischen Freund und zwang ihn drei Mal, mit mir in die große Stadt zu fahren, damit ich ins Gewühl abtauchen konnte. Wenn ich dann die Treppe von der U-Bahn zur Straße hoch stieg und dabei die Opéra, den Louvre oder den Tour Eiffel und diese ganzen Massen drumherum sah, ergab das ein ganz anderes Lebensgefühl und ich fühlte mich frei, erwachsen und unabhängig. Ich wurde süchtig nach der Stadt und lernte, wie man ohne Tickets durch die Métro kommt, wie man nachts am Grab von Jim Morrisson feiert und dass man am Centre Pompidou mühelos Menschen aus der ganzen Welt kennenlernt. Sogar die Hütchenspieler am Strasbourg St. Denis erkannten mich wieder. Paris entwickelte sich für mich schon bei diesem dritten Besuch zu einem Suchtfaktor und zeitweise erklärte ich meinem Austausch-Schüler die Stadt, obwohl der ja nur 70 km von der Metropole entfernt wohnte. Genau zu meinem 18. Geburtstag machte ich meinen Führerschein und in der Woche darauf steuerte ich meine Wanne nach Paris, fasziniert davon, wie sie in der französischen Hauptstadt Auto fuhren. Angstlos, straight forward und unter Missachtung aller Verkehrsregeln. Ich verfuhr einen ganzen Tank voll damit, in den Pariser Straßen kreuz und quer zu fahren oder auf der sechsspurigen Periphérique um die Stadt zu brettern. Einmal blitzten sie mich sogar, aber weil wir alle aus der Unterführung heraus zu schnell waren, gab es ein Blitzlichtgewitter auf allen Fahrspuren und es kam nie was bei mir an.

Die nächsten zehn Besuche verbrachte ich damit, die Anordnung der Arrondissements zu lernen, wie man am schnellsten vom Montparnasse zum Montmartre kam und wie man im Berufsverkehr die Hauptschlagadern der Stadt umfahren konnte. Weil ich kein Geld für Hotels hatte, schlief ich im Auto und von nun an fuhr ich quasi wann immer es ging nach Paris, einfach um dort in der Masse unterzutauchen oder andere davon zu überzeugen, wie faszinierend das alles ist. Dann zeigte ich meinen Mitfahrern die ganzen Sehenswürdigkeiten und ich musste dazu nicht mal einen Blick auf die Karte oder den Métroplan werfen. Mit 25 beschloss ich, das Stadtführerwesen aufzugeben, weil es mir zu anstrengend wurde und weil ich mir wünschte, tiefer in die Stadt einzutauchen. Paris machte es mir damit genau so leicht, wie alle anderen Drogen, die ich kannte. In all dieser Zeit machte ich kein einziges Foto dort. Ich fraß die Bilder auf meine eigene Festplatte und hielt mich für viel zu cool, um damit anzufangen. Dann machte mein Leben diese seltsame Kehrtwende und ich musste einige Zeit damit pausieren, aber als ich mit 30 wieder anfing, begann ich damit, Reiseführer über die Stadt zu lesen und Fotos von Plätzen zu machen, die mir besonders gefielen. Ich entdeckte die zahlreichen Passagen, lernte viel über die Geschichte der Stadt und begann damit, mich mit den einzelnen Quartiers zu beschäftigen.

Von nun an sammelte ich mir Kraft und Reserven an, um die Aufenthalte dort zu planen. Ich hatte mich jetzt so viele Jahre lang wie ein Wilder in die Massen gestürzt, kannte sämtliche Métrostationen und Märkte und benahm mich wie ein Parisien, ohne einer zu sein. Alle zwei Jahre zog ich jetzt los und besuchte immer eines der hervorragenden Museen (meine Top3: Das Musée d’Orsay, das Musée Rodin und das Marmottan, aber nicht der Louvre – weil es darin immer zu voll ist.). Ich begann damit, Paris auf eine spezielle Art kartographisch zu fotografieren und versuchte sogar, meine Vergangenheit in den Bildern zu finden, wobei es für manches zu spät war. Das Kino, in das ich die ersten fünfzehn Jahre lief, um THE WALL in 3D zu sehen, gab es nicht mehr. Nach und nach lernte ich auch die Parks rund um die Stadt kennen und die meisten Orte aus meinen Lieblingsszenen französischer Filme. Paris ist zweifelsfrei die mir am besten bekannteste Stadt im Universum, wenn ich meine Heimatstadt und meine Wahlheimat Berlin ausklammere. Selbst Dresden, wo ich mehr als zwei Jahre verbrachte, ist mir weniger vertraut. Ich war drei Mal an Silvester in Paris, wurde nachts vom Père Lachaise verjagt und schlief abends ständig in der fahrenden Métro ein, um nach der Endstation in der Gegenrichtung bis zum Feierabend schlafend weiter zu fahren. Und im Gegensatz zu Amsterdam, das ich auch schon sehr oft besuchte, bin ich dort noch nie beklaut worden, obwohl man ständig davor gewarnt wird.

Bei den letzten fünf Besuchen mietete ich mir jeweils ein kleines Appartement in der Stadt, wobei man klein nicht wegen des Budgets betont, sondern weil es gar keine anderen Wohnungen gibt. Was größer als 30qm ist, ist inzwischen unbezahlbar geworden. Und trotzdem kann man sich in Paris wunderbar selbst versorgen, sofern man dem Käse, dem Rotwein und einem schlichten Baguette zugetan ist. Gerade bin ich wieder zurück von einem wunderbaren langen Wochenende mit dreihundert frischen Bildern im Gepäck und meiner Süßen, die es jetzt ein bisschen besser versteht, was das Paris-Syndrom bedeutet.

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Ein Kommentar

  1. Der Bericht ist wunderbar und sehr lebendig erzählt, etwas ausführlicher könnte ein wunderschönes Buch werden…Liebe Grüße Brita

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