Wie man das Volk zählt

Bild: Wikimedia Commons: Volkszählungsbögen an der Mauer 1987

 

Volkszählung? Nicht mit uns.

Eine kleine Erzählung zum zivilen Ungehorsam aus einem halben Land, das es nicht mehr gibt.

Es muss so Anfang 88 gewesen sein, als ich beim Umziehen in einer Ecke meiner Küche etwa zweihundert Volkszählungsbögen fand. Alle vollständig ausgefüllt, aber ohne Erfassungsnummern, die fein säuberlich ausgestanzt daneben lagen. Ich hatte schlicht vergessen, sie beim Dritte-Welt-Laden abzugeben und jetzt wollten sie die Dinger auch nicht mehr haben, weil sie nicht wussten, wohin damit. Ich fütterte den Shredder damit und behielt sicherheitshalber die ausgestanzten Nummern, sozusagen als Zeichen meines guten Willens, falls jemand fragen sollte. Die Volkszählung 1987, von der die Bögen in der Küchenecke übrig blieben, war ein echtes Desaster für die Regierung – und ich hatte meinen Teil dazu beigetragen.

Einige Jahre zuvor beschloss der Bundestag, in einer Zeit ohne Computer, ohne Datenschutzgrundverordnung, ohne Smartphones oder Tablets, eine Reihe höchst unverschämter Fragen zu stellen und dabei das Volk zu zählen. Für die Jüngeren unter uns muss ich erwähnen, dass eine Volkszählung in etwa das Gleiche ist, als ob Google oder Facebook fragt, ob man mit den allgemeinen Geschäftsbedingungen einverstanden ist, bevor man ein Häkchen dransetzt – mit dem Unterschied, dass man die Fragen damals noch gelesen hat, bevor man sie mit nur einem Häkchen alle gleichzeitig beantwortet. Soweit ich mit der Installation der heutigen Apps vertraut bin, erlauben wir so ziemlich jeder uns unbekannten Harzbacke, auf unseren Standort, unsere Kontakte, unsere Bilder und Videos, ja sogar auf die Anzahl und Art unserer Einkäufe zuzugreifen.

1987 wurde zum Beispiel gefragt, ob man alleine wohnt oder zu zweit oder mit einer Familie. Ob das Haus, in dem man wohnt, ein Einfamilien- oder ein Mehrfamilienhaus ist. GoogleMaps weiß heute nicht nur ganz genau, was für ein Haus das ist, sondern auch wer darin wohnt, welche Praxis oder welches Geschäft dort betrieben wird und als ob das nicht genug sei, auch noch wie es dort aussieht. Ferner wurde damals gefragt, welcher Religion man angehört, wo man was arbeitet und ob man davon leben kann, wie hoch das Einkommen ist, was man gelernt hat und wie die Wohnung ausgestattet ist: Mit einer Einbauküche oder ob mit Ofenheizung.

Wenn man diese Informationen miteinander kombinierte, ließ sich eine Menge über die Person herausfinden, die den Fragebogen ausfüllte. Viel bedrohlicher schien uns, dass jeder Fragebogen mit einer Identifikationsnummer versehen war, aus der sich rückfolgern ließ, wo der Bogen hinverteilt wurde. Wir unterschieden also damals noch, ob man dem Staat einfach so eine Menge Informationen zukommen lässt oder ob der sogar noch weiß, wer ihm diese Informationen gibt. Amazon braucht sich heute darüber keine Gedanken mehr zu machen. Amazon weiß, wer welchen Kühlschrank kaufte und weiß auch, was diese Person sonst so kauft. Ja selbst, wie viel diese Person kauft, wo sie es hinliefern lässt, ob sie liquide ist und sogar, was sie wahrscheinlich demnächst kaufen wird und auch noch, wie der Käufer das Produkt beurteilt und was er von sich im Text freiwillig preisgibt. Und das mit einem Bruchteil des Aufwands. Wir liefern diese Daten einfach alle freiwillig dort ab. Ohne Protest, ohne Widerstand!

Die Volkszählung kündigte sich über Jahre hin an. Mit jedem Jahr, mit dem die tatsächliche Befragung näher kam, wuchs die Angst davor, was mit diesen Daten geschehen würde. Wer beispielsweise das Finanzamt Jahr für Jahr beschiss oder schwarz nebenher arbeitete oder sich vor der Bundeswehr drückte, hatte genau so viel Furcht vor der Auswertung wie diejenigen, die an ihrem Wohnsitz nicht gemeldet waren oder staatliche Hilfen in Anspruch nahmen. Als dann auch noch bezahlte Helfer für die Zählung werben sollten und bekannt wurde, dass sie beim Ausfüllen behilflich sein würden, war das Maß voll für uns. Organisiert und koordiniert wurde der Protest damals unter anderem von den Grünen und – jetzt kommt’s – von der Jugendorganisation der FDP (!!), was mir heute ganz besonders absurd erscheint. Selbst die SPD-Parteizentrale war des Boykotts verdächtig und wurde durchsucht. 1.100 Bürgerininitiativen wehrten sich gegen die Volkszählung, boykottierten und sabotierten sie, was zum grandiosen Misserfolg der Datensammlung führte.

Wir kriegten heraus, wann die Volkszähler durch unser Viertel liefen, klingelten kurz nach Ihnen und sammelten die Fragebögen wieder ein! Dann schnitten wir die Identnummer aus den einzelnen Bögen und verteilten sie wieder, denn wir wollten uns nicht dadurch strafbar machen, dass wir sie verhinderten. Außerdem boten wir an, die Bögen gesammelt ohne Möglichkeit der Nachverfolgung abzugeben. Der Boykott wurde von so vielen Vereinen und Initiativen getragen, dass der auswertbare Rücklauf einem Desaster glich. Wir gaben unsere Daten einfach nicht her. Und wenn wir sie hergaben, dann nur anonym. Der ganze Aufwand war es uns damals einfach wert. Wir wollten kein Orwellsch’es 1984, keine gläsernen Bürger und auch keine Auskünfte über unsere Kücheneinrichtung abgeben. Wir wollten auch keiner Strafverfolgungsbehörde freiwillig Anlass dazu geben, bei uns rumzuschnüffeln. Und heute geben wir die Daten durch die Nutzung von Ebay und Co freiwillig her. Es scheint einfach alternativlos zu sein, an ihnen vorbeizukaufen oder sich dort anzumelden, wo es alle tun. Um bei Facebook etwas zu liken, zu dissen, zu faken oder sich niedliche Katzenvideos anzusehen.

Inzwischen kommt mir der zivile Ungehorsam der 80er, die Angst vor dem Überwachungsstaat, vor dem Datenaustausch zwischen Polizei und Geheimdiensten, die massive Gegenwehr zum Schutz unserer Bürgerrechte, wie eine Geschichte aus einem anderen Land vor, in dem ich nicht mehr lebe. Ist es überhaupt noch möglich, sich gegen den gläsernen Bürger zu wehren? Wollen wir das überhaupt, wenn wir stattdessen auf Smartphones rumwischen dürfen? Hätten sich die Menschen 1987 dagegen gewehrt? Wäre die Welt heute eine andere, wenn wir uns nicht gewehrt hätten? Diese und andere Fragen stelle ich mir ziemlich oft.

Und ich fürchte, die Antwort auf alle diese Fragen ist Nein.

 

 

 

 

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