Torhungrige Radiotechniker der Taiga

Der große, holzbraune Riesenkasten glänzte in seinem wunderschönen Lack und zeigte an den Rändern zwei, drei goldfarbene Linien, die auf das Holz aufgesetzt waren. Damit strahlte er sowohl eine Mächtigkeit durch seine beeindruckende Größe, als auch Eleganz und Exklusivität aus. Weil er im Flur meiner Omi stand, war ich mit ihm alleine. Ich zog mir einen Hocker davor, setzte mich hin und nahm mir jedes Mal einige Zeit, um ihn ehrfürchtig und bewundernd zu betrachten, wenn wir unser Rendezvous hatten. Ich konnte nicht richtig abschätzen, wer von uns beiden mehr Masse hatte. Die mächtigen Druckknöpfe, von denen jeder einzelne breiter als einer meiner Finger war, waren aus gehärtetem Gießharz, elfenbeinfarbig und standen in einer Reihe wie mächtige Zähne eines unbekannten Riesentiers und wenn man einen davon drückte, sprang ein anderer mit einem gewaltigen „Klong“ raus.

Das sollte so sein, denn man konnte zwischen Kurzwelle, Mittelwelle, Langwelle und Ultrakurzwelle wählen. Es dauerte fast zwei Minuten, bis die Röhren warm waren, aber es war schön und voller Spannung ihnen dabei zuzuhören, denn sie brummten auf eine ganz bestimmte und vertraute Art, die ich sehr mochte. Rechts und links gab es zwei schöne, große Drehknöpfe, von denen der linke die Lautstärke, der rechte die Frequenz steuerte. Weiterhin gab es drei Rädchen zum Feintuning, je nachdem, wie man den Klang verändern wollte. Rechts oben war das runde, grüne, magische Auge: Es zeigte an, wie stark der Empfang war, also, wie genau die Frequenz ausbalanciert war, damit man den besten Empfang hatte. Es war faszinierend, dem Auge bei der Arbeit zuzusehen. Es veränderte sich ständig, wenn man auf der Suche nach Sendern war und manchmal sogar während des Hörens. Dann breitete es sich aus und die Leuchtstoffmischung füllte den Pegel aus oder sie zog sich zurück, wenn der Empfang schwächer wurde. Es war sogar möglich, einen Empfang komplett zu verlieren oder andererseits an einer vorher „leeren“ Stelle des Pegelbands plötzlich eine zarte Stimme zu hören.

Das Allerbeste war die riesige Auswahl an Städtenamen. Sie waren nebeneinander und untereinander durch die Unterteilung in die vier Wellenbänder aufgereiht und man konnte irrsinnig viele Stationen empfangen, auch wenn manche nur aus dem Rauschen ferner Länder bestanden und nur ganz leise ein kaum wahrnehmbares Stimmchen dazwischen funkte. In einem länglichen Fenster über den Städtenamen steuerte man die Stationen mit dem Frequenzrad an. Für Mittelwelle und Langwelle standen geheimnisvolle Namen wie Motala, Droitwich, Hörby und Brassov. Gab es diese Städte wirklich oder hatte sich jemand die Namen ausgedacht? Eine Geheimsprache vielleicht. Ich musste das unbedingt herausfinden und die Detektivarbeit setzte sich oft in meinen Träumen fort, wenn ich am Abend ins Bett stieg und mir vorstellte, wie wohl Monto-Cereni, Beromunster, Pressburg und Kaschau aussehen, wenn man sie eines Tages entdecken würde. Konnten die Menschen sich dort jemals von Eis und Schnee befreien und war ihre einzige Verbindung zur Außenwelt so ein riesiger Radiokasten wie unserer? Sicher hatte ich Stettin, Brünn und Kopenhagen schon mal gehört, es war halt irgendwo anders. Aber Kalundberg? Und das geheimnisvolle Hilversum? Auch die glanzvollen Namen Monte-Carlo und Luxemburg fehlten auf der Glas-Skala nicht:  Städte, die in meiner Vorstellung aus purem Gold gebaut sein mussten, denn dort wohnten die Könige und Fürsten – das wusste man ja. Ich mied sie, denn sie waren ohnehin priviligiert. Mich interessierten viel mehr die Signale aus der russischen Taiga. Vielleicht konnte ich helfen.

Wenn ich einen fernen Sender mit ausländischer Sprache einfing, stellte ich mir vor, dass nur mir dieses Kunststück gelingt. Ich führte ganz besonders feine Drehbewegungen bei der Senderwahl aus und lauschte gespannt, wovon die andere Seite sprach – war es etwa ein Hilferuf aus einer sibirischen Steppe? Eines Tages entdeckte ich – genau als der Pegel über Kiew strich – einen Sender, zwar in deutscher Sprache, doch mit diesem typisch russischen Akzent, den ich nur von Filmen her kannte. Die sprachen ja wirklich so lustig, wie ich es schon im Fernsehen gehört hatte! Und die Stimme sagte sowas wie: „Uuhnt nuun fier unsärre daitschspraachigen Freinde des sowjätischen Folkes ein paarr wihchhtige Iihnformazzionen…“…es war einfach großartig und sehr aufregend. Ich hatte einen der russischen Propagandasender auf Kurzwelle erwischt, von dem ich damals natürlich nicht wusste, dass es einer war. Ich lauschte gespannt den Ausführungen darüber, dass es in der Sowjetunion noch nie Arbeitslose gegeben habe und wie friedlich und freundlich und zufrieden alle miteinander seien. Um ehrlich zu sein, wusste ich nicht, was es mit diesen Arbeitslosen auf sich hatte. War das ein anderes Wort für Vagabunden und Gauner? Und nett war meine Oma ja auch meistens, vor allem wenn es Kirmesgeld oder Apfelkuchen gab. Trotzdem nahm ich mir vor, mir dieses wundervolle Land anzusehen, sobald ich groß war.

Auf den heimischen Sendern der UKW war der Empfang einfach wunderbar und der Klang fantastisch. Nirgendwo sonst hörte ich die Fußballreportagen der Bundesliga lieber, als aus diesem schönen, geheimnisvollen, großen Radiokasten. Es wirkte alles irgendwie viel bedeutungsvoller und wichtiger, wenn es mit dieser Klangwucht ankam und so verbrachte ich viel Zeit im Flur meiner Omi zwischen Apfelkuchen und Lattenknallern, starrte auf geheimnisvolle Städtenamen und füllte damit die Geschichten meiner Träume, wo ich als Pionier der Radio- und Funktechnik die erfolgreichsten Fußballklubs der Welt gründete, für die ich unglaubliche Kunstschüsse auf dem Rasen vollbrachte.

 

 

 

 

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