Schneegestöber auf der A8

Achtziger. Wenn ich es nicht mehr aushielt vor Fernweh, war es mal wieder an der Zeit, sich mit Rucksack und Pappschild an die Autobahn zu stellen. Ich hoffte immer, möglichst schnell wegzukommen. Es machte mir nichts aus, in fremden Städten oder auf fremden Plätzen lange zu stehen, aber aus der eigenen Stadt nicht rauszukommen, das ging gar nicht. Länger als eine Stunde zu warten bedeutete, man lief massiv Gefahr, dass jemand vorbei fuhr, der einen kannte und ich wollte mich nicht erklären, wohin ich fuhr und warum. Wusste es ja selber nicht. Ich wollte einfach nur weg. Die Stadt war nicht groß. An geeigneten Ausfallstraßen gab es kaum Auswahl. „Die beste Straße unserer Stadt führt aus ihr heraus“, summte ich vor mich her, während ich da stand und den Daumen hoch hielt. Anfangs war ich noch gut gerüstet, was meine Zielschilder und Beschriftungen anging, aber nach zwei Wochen Abenteuer später meist so abgebrannt, dass ich mir nicht mal 'nen neuen Edding leisten konnte, weil der alte längst verloren war, den Geist aufgegeben hatte oder durchnässt nicht mehr zu gebrauchen war. "Bloß keinen schnellen Wagen mit einem vor Stress halb wahnsinnigen Businessmann", dachte ich. Ich hatte es grundsätzlich nie eilig. Das Wichtigste war, aus der Stadt rauszukommen und wenn ich ankam wo ich hinwollte, war ich da. So ganz genau waren die Ziele eh nie definiert. Ich packte meinen Krempel zusammen: Drei Unterhosen, eine Jeans, zwei oder drei T-Shirts oder Pullis, die Zahnbürste, ein Handtuch, ein Stück Seife und dann nahm ich meine Jacke und meinen Hut vom Haken und schloss die Tür hinter mir zu. Auf dem Weg zur Autobahn dachte ich dann darüber nach, wohin. An der Endhaltestelle des Autobusses, der mich zur Autobahn brachte, stand eine Sitzbank, auf der ich mein Schild beschriftete. Man durfte nicht Amsterdam, Hamburg, Berlin oder Turin auf das Schild malen – das machte ich abschnittsweise. Von Zuhause aus stand da Frankfurt, Köln oder Karlsruhe drauf. Dann hinstellen, den Rucksack etwas abseits hinlegen und den Fahrern möglichst in die Augen schauen, wenn sie vorbei fahren. Das Reisen war das eigentliche Ziel. Und man erlebte verdammt viel bei diesen Fahrten.

Einmal stand ich auf dem Rückweg schon über eine Stunde im Dauerregen an dieser Autobahnauffahrt in der Nähe von Leonberg im Schwabenland, war kurz vorm Aufgeben, viel zu durchnässt, um mir wenigstens eine Kippe zu drehen und sie wegzurauchen, absolut entnervt und kurz vorm Aufgeben, da kam meine Rettung in Form eines winzigen, crémefarbenen, knatternden Autos daher. Es hielt direkt vor meinen Füßen. Ich öffnete die Tür, fragte den Fahrer erst gar nicht wohin er will, warf den Rucksack nach hinten und stieg ein. „Du bist meine Rettung“ sagte ich. „Ich bin völlig durchnässt. Macht es Dir was aus, wenn ich mich erst mal umziehe?“ Er sagte irgendwas Belangloses und ich begann, die Hosen auszuziehen und das Handtuch aus dem Rucksack zu fischen. Das Handtuch hatte inzwischen Auflösungserscheinungen und hinterließ Baumwollflusen auf dem Sitz. Dann sah ich mich um. Ich saß in einem wunderschönen DAF 600, Baujahr 63, ohne Gurte, aber dafür mit einer einzigartigen, stufenlosen Drei-Gang-Variomatic ausgestattet, die den Wagen auf satte 85 Km/h beschleunigen konnte – wenn es geradeaus ging. Ich kriegte gar nicht genug davon, den Wagen mit all seinem Interieur zu begutachten. Der Fahrer sah mit seine Nickelbrille und seinen kurzen Haaren irgendwie gleichsam freakig und aufgeräumt aus und redete ununterbrochen. Meiner Erinnerung nach erzählte er mir sein Leben und war gerade bei der Einschulung angekommen. Bergauf wurden die 20 PS des DAFs von den LKWs überholt, bergab blieb der Fahrer bei Vollgas und kassierte sie nach und nach wieder ein. Es war faszinierend. Die Variomatic arbeitete mit Fliehgewichten. Obwohl die Motordrehzahl gleich blieb, erhöhte das Getriebe die Reisegeschwindigkeit. Das dauerte jedoch ewig, sogar bergab. Lustigerweise verfügte der Wagen über einen Knopf am Armaturenbrett, der den Effekt der Unterdruckverstärkung umkehrte, damit der Motor die Bremskraft bei Bedarf erhöhte. Ich fragte mich, wann man dieses einzigartige Feature einsetzen könnte. Zu allem Überfluss hatte der DAF ein eigenes Wendegetriebe, das ihm erlaubte, rückwärts genau so schnell wie vorwärts fahren zu können. Ein fantastischer Wagen mit einer fantastischen Heizung. Der Nickelbrillenmann war jetzt in der Schulzeit angekommen.

Nach gut vierzig Minuten fühlte ich mich warm und safe und die Zigaretten schmeckten auch schon wieder. Der Typ redete unablässig. Inzwischen hatte er seine Schwester als Thema, die irgendwas Komisches an sich hatte. Also dachte ich, es sei eine gute Idee, ihm einen Joint anzubieten, damit er endlich runterkommt und mich in Ruhe den DAF beim Arbeiten zusehen lässt. „Nein danke“, sagte er, „davon werde ich immer so redselig und quatsche dann unablässig vor mich hin“. Ich lachte ihn an, weil ich das für einen guten Joke hielt, aber er war sich gar nicht bewusst, wie lustig das gerade war, weil er es ernst meinte. „Aber ich bin schon seit vier Stunden unterwegs“, fügte er hinzu, „ich könnte etwas von dem Koks da im Handschuhfach gebrauchen“. Ich starrte auf das Handschuhfach und dann wieder auf Mr. Nickel. Er brachte seinen Stiefvater ins Gespräch. Ich öffnete die Klappe und sah nach. Das Handschuhfach war wwinzig, aber es lag tatsächlich ein Metalldöschen, ein Handspiegel und ein geeignetes Zugröhrchen mit Schneeresten drin. Ich nahm es, machte auf großen Drogenkenner, feuchtete den Finger an und führte was von dem Pulver zur Zunge. Kokain war nie in meinem Portfolio. Schon allein deswegen nicht, weil es zu teuer war. Der örtliche Dealer wollte siebzig Mark für ein halbes Gramm und das war es mir einfach nicht wert. Jedes Mal, wenn ich darüber nachdachte, stellte ich mir zum Vergleich den Gegenwert von 140 Flaschen Bier vor und das brachte es einfach nicht, wenn man nur zweihundert Mark zum Leben im Monat hatte. Er stellte mir auch seine übrigen Geschwister vor. Jetzt war die Gelegenheit günstig. Der DAF hielt sich einigermaßen wacker in der Spur, aber das Risiko war nicht auszuschließen, ausgerechnet im Augenblick des Konsums über eines der zahlreichen Schlaglöcher zu brettern. „Du bist Dir sicher, dass Du deswegen nicht lieber mal anhalten willst?“ „Absolut!“ kam es zurück. „Okiedokie" sagte ich. "Aber wehe Du wirfst mich raus, wenn es daneben geht“. „Keine Sorge“, sagte er, „ich hab noch mehr davon“.

Während ich das Döschen öffnete und dann auf dem Spiegel sorgfältig was von dem Weißen verteilte, dachte ich darüber nach, wie seltsam doch manchmal das Leben so spielt. Gerade stand ich noch völlig verzweifelt an der Autobahnauffahrt, wäre in jedes Auto zu jedem eingestiegen, Hauptsache es bringt mich ein Stück weit von diesem schrecklichen Standplatz weg und jetzt sitze ich mit meinem warmen Arsch in einem der sonerbarsten Automobile aller Zeiten, mache Kilometer in Richtung eines echten, richtigen Betts mit einer echten, richtigen Matratze und warmer Daunen-Bettwäsche und muss ich nicht mal was fürs Koks zahlen. Never say never!, triumphierte ich. In Ermangelung einer stilechten Rasierklinge klopfte ich den Schnee mit meinem Taschenmesser auf der Platte aus, schob ihn wieder zusammen, hackte ihn bestmöglich fein und klein und formte zwei bildhübsche Linien. Dann reichte ich ihm das Röhrchen und sagte „Pass auf, hier kommt der Stoff. Fahr geradeaus, behalte die Fahrbahn und den Verkehr im Blick und lass Dich nicht ablenken“. Er gab gerade die große Liebe seines Lebens zum Besten. „Und hör einen Moment auf zu quatschen, ja“?, setzte ich nach. Tatsächlich half es – für einen Moment. Und ich konnte die Vorfreude aus seinen Augen blitzen sehen. „Behalt' die Augen auf der Straße“, wiederholte ich und schob ihm den Spiegel unter.

Und dann passierte etwas, was man sonst nur in einem Comicstreifen oder in einem Film mit schlechten Kalauern sieht – der damals unausstehliche Diddi Hallervoorden hätte es definitiv nicht besser hingekriegt. Es war ein Moment für die Ewigkeit. Wenn ich heute so darüber nachdenke, dann kann ich diese Bilder nur in einer absolut verlangsamten Zeitlupe gedanklich vorbei ziehen lassen, so als ob man den Film in Super-Slowmotion Bild für Bild ablaufen lässt. Wie ich ihm den Spiegel unter die Nase halte, sich unter der Nickelbrille langsam, fast unmerklich ein Zucken vom rechten Mundwinkel hoch zur Nase abzeichnet, das Zucken sich zu einer zarten Falte ausbildet, die Falte sich kräuselt, mit der Bewegung noch weitere Falten nach sich zieht, die sich gleichfalls kräuseln und zunächst den Nasenflügel, dann die Nasenspitze und schließlich den kompletten Riechapparat anheben, die Bewegung den Kopf kurz nach hinten kippen lässt und er dann mit einer gewaltigen Wucht einen Nieser raushaut, der das teure Zeugs unrettbar auf dem ganzen Armaturenbrett des DAFs verteilt. "ZOSCH!" machte es. Der Koksstaub segelte durch die Luft und legte sich dann langsam hier und da ab. Ich starrte auf den leeren Spiegel, dann auf die Szenerie rundherum und konnte es einfach nicht glauben. Mr. Nickel hatte mindestens hundert Mark im DAF verblasen, hielt sich dafür aber erstaunlich wacker. „Mist“, zischte er, „schon wieder“. Dann folgten einige Sekunden des Schweigens, die mir viel unangenehmer waren, als ich nach seinen ganzen Erzählungen erhoffte.

Nochmal“, rief er. „Mach nochmal“! – „Nein, Mann. Auf gar keinen Fall“! gab ich zurück. „Du fährst da jetzt rechts ran und wir pudern uns in die Ruhe die Nase. Weißt Du, mit wie wenig Geld ich im Monat auskommen muss? Hier liegt Schnee für 'nen halben Monat rum“! Das beeindruckte ihn und er schaffte es, für fast eine ganze Minute still zu sein. Dann legte er wieder los an genau der gleichen Stelle, an der er vor dem Niesunfall pausierte. Auf der A5 versuchte er es bis zum Frankfurter Westkreuz noch zwei weitere Male, aber ich ließ mich nicht dazu überreden, das Koks wieder aufs Spiel zu setzen. Als gut erzogener Junge hatte ich ein respektvolles Verhältnis zu Dingen, die ich mir nicht leisten konnte. Ab und an entdeckte er einen weißen Krümel, führte ihn mit der Fingerspitze zur Nase und zog ihn kurz und heftig ein. Einmal erwischte er eine der weißen Baumwollflusen, dessen war ich mir ganz sicher. Selbst als er mich absetzte, kam er nicht von seiner Hektik runter. Ich bedankte mich, griff meinen Rucksack, stieg zügig aus und sah dem DAF noch eine Weile nach, nachdem er sofort wieder los startete. Inzwischen hatten sich die Wolken verzogen und die Sonne schien durch. Sie fühlte sich wunderbar warm auf meiner Haut an. Meine Klamotten waren trocken und es waren nur noch zwei bis vier Stunden bis nach Hause. Dann wechselte ich die Straßenseite und lief bis zum großen, neuen und blankgeputzten blauen Schild der Anschlussstelle, auf dem Saarbrücken, 224 km stand. In der nächsten Zeile darunter stand Paris, 575 km.

 

 

 

 

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