Nachtschicht

 

Wir bringen's! – stand auf unserer alten VW-Kalesche. Wir besprachen die Lage. An den Tanken der Stadt kostete die Packung Bier nachts etwa 25 Mark statt 20 und wir brachten sie für 29, und die Hälfte der Flaschen davon gekühlt direkt in die Stube. Das war so im großen Ganzen der Plan. Wir kamen drauf, nachdem wir uns selbst immer wieder darüber gestritten hatten, wer von uns nachts um drei an die Tanke fährt, wenn wir mit unseren Frauen die Nächte durchmachten. Meistens spielten wir den Verlierer aus – und meistens war ich der Verlierer. Deswegen musste sich das ändern. Neben dem Bier hatten wir noch jede Menge an Flüssigem zu bieten. Außerdem gab es Chips, Nüsse, Schokolade, Eis, Tiefkühlpizzas und Kondome. Damit deckten wir die Palette der Nachteulen ab. Wochentags ging es bis drei, am Wochenende bis fünf Uhr morgens. Unsere Damen managten die Kasse, verzogen sich aber meist nach Mitternacht und einer von uns Jungs rockte von da an den Laden allein. Man konnte die Bestellungen auf dem AB hinterlassen und wenn man zurückkam und das Band abhörte, hieß es: eine Ladung Bier und eine Flasche Wodka und ein O-Saft nach da-und-da oder drei mal Eis und Tiefkühlpizza mit ner Flasche Roten nach da-und-da, Jägi nicht vergessen.

Wenn die Leute noch gut am Feiern waren, waren die Lieferungen am schönsten. Ich bekam reichlich Trinkgeld und alle waren bester Laune. Manchmal war es auch weniger lustig. Einmal trug ich zwei Flaschen Crémant in den Dritten, da hörte ich im Hausflur ein lautes Türenknallen und ein Wüterich rannte fluchend an mir vorbei. Als wir uns auf den Treppen begegneten, zischte er mir "die blöde Kuh" entgegen und mir schwante Übles. Hinter der halb offenen Wohnungstür stand eine in Tränen aufgelöste, üppige Frau. Sie hatte ein sehr hübsches Nachthemd an. "Er hat das Geld", schluchzte sie. "Ich hab den Stoff", sagte ich. Sie bat mich rein und ich setzte mich an den Küchentisch, während sie die Spardose plünderte. Es war nachts um halb Eins und eine mir wildfremde Frau mit nichts mehr am Leib, als einem dünnen Nachthemd, suchte 30 Mark in 50-Pfennig-Stücken zusammen. Sie stand nach vorn gebeugt über ihrer Münzsammlung und ich hatte ausreichend Zeit, mir ihre Figur zu betrachten. Sie stand auf hübschen Beinen. Es sah aus wie ein Versprechen. Sie suchte weiter.

Nach einer gefühlten Ewigkeit, tauchte sie mit zwei Händen Kleingeld wieder aus der Dose auf. "Es sind nur 26. Ich geb' Dir'n Glas ab" sagte sie zwischen zwei Schniefern und schaute mich dabei mit tieftraurigen Augen an. Ich öffnete die Geldbörse und die Münzen senkten sich mit dem Gewicht einer Bleikugel in die Taschen. Das fühlte sich gut an. Dann zog ich das Alu von einer der Flaschen und drehte die Korkensicherung ab, während sie die Gläser hinschob. Ich ließ das Ding kommen. "Lass mich raten", sagte ich und füllte die Gläser, ohne einen Tropfen zu verschwenden. "Er ist ein Schwein". Sie nickte, schniefte und ich reichte ihr eine von den Servietten, die neben den leergegessenen Tellern lagen. Als sie fertig mit Schnäuzen war, schwiegen wir eine ganze Weile und ich dachte an die Bestellungen, die gerade auf dem AB aufliefen. „Willst Du darüber reden?". Sie erzählte mir, dass er ihr gerade eröffnet hatte, sie zu verlassen, aber wie selbstverständlich davon ausging, dass sie trotzdem ihr Versprechen hielt. Sie tat mir leid, also sagte ich sowas in der Art, dass sie das sicher nicht verdient hat, aber damit machte ich es genau falsch. Sie fing wieder an zu schluchzen. Mir wurde klar, dass sie sich selbst dafür beweinte, dem Schwein geglaubt zu haben. Ich dachte wieder an die Bestellungen. „Hör zu“, sagte ich, „ich kann Dir nicht helfen, aber das ist guter Stoff, Du wirst morgen keinen Kater davon haben. Ich muss weiter. Kondome verkaufen.“ Das gefiel ihr, denn sie unterbrach für einen kurzen Augenblick das Heulen. Wir hoben die Gläser, prosteten uns zu, ich trank aus und machte mich vom Acker.

Es gab ein Viertel in der Stadt, in das sich schon am Tage kaum jemand rein traute, aber wir kreuzten furchtlos nachts durch die Straßen der Bronx, fuhren in Aufzügen, in denen zuvor irgendwas zwischen blutiger Auseinandersetzung und Grafittifestival stattgefunden haben musste, zu Wohnungen, in denen uns in der Regel ein zähnefletschender Dobermann oder sonst ein Höllenvieh mit Metallhalsband begrüßte. Man durfte einfach keinerlei Angst spüren lassen, weder vor dem Höllenvieh, noch vor dem meist vollständig tätowierten Besitzer mit Glatze und Goldring im Ohr. Diese Typen verlangten in der Regel, dass man statt Trinkgeld ein Bier auf Ex mitzog und man gewöhnte sich dran. Kiste hinstellen, Flaschen in die Runde verteilen, mit dem Feuerzeug die Korken schnäppern lassen und dann rein damit. Zum Abschied gemeinsames Rülpsen und die Gang wurde zur Stammkundschaft. Nur durfte der ganze Deal nicht zu lange dauern, sonst machte sich unten jemand am VW zu schaffen, weil der Inhalt zu verlockend war. 

Eines morgens um Vier, ich zählte gerade die Einnahmen der Nachtschicht zusammen, klopfte es an die Tür unseres Lagers. Ich zog die Jalousien hoch und entdeckte eine etwa vierzigjährige, völlig betrunkene Lady. Sie rief irgendwas, das wie „Eintracht Frankfurt ist abgestiegen“ klang. Ich öffnete die Tür und sie fiel fast kopfüber in den Laden, fing sich dann aber doch wieder und stolperte auf einen der Bierkastentürme zu, an dem sie sich geschickt abfing, ohne ihn zum Wanken zu bringen. Dann drehte sie sich außer Atem zu mir um, schnaufte ein paar mal durch und verkündete: „Eintracht Frankfurt ist abgestiegen!“ Das war zweifelsfrei eine wertvolle Information, aber ich kannte sie schon. „Ja“, sagte ich, „das ist echt tragisch, was?“ „Das kannste laut sagen“, röhrte sie zurück „Wo is hier das Klo?“ Ich nahm sie an der Hand und führte sie aufs Klo, das hinter dem Büro war, schaltete das Licht an, stellte sie dort ab und schloss die Tür hinter ihr. Dann ging ich zurück ins Lager und hoffte, anhand der Geräusche aus der Presskammer kein weiteres Drama zu erwarten.

Ich hatte längst die Kasse abgerechnet, die Bücher geführt und die Flaschen in den Kühlschränken nachgefüllt, dann endlich rauschte die Spülung mehrmals kräftig durch und sie kam ohne jede Spur eines Dramas wieder zum Vorschein. „Boah“, rief sie. „Das! War! Dringend!“. „Ich ahne es“, antwortete ich, „wir entsorgen es aber nicht nur, wir bringen's auch“. Sie schaute mich mit großen Augen an, drehte sie leicht nach oben, schwankte ein wenig auf der Stelle rum und man konnte sehen, wie sich der Gedanke seinen Weg durch die gesammelten Promille bahnte. Dann beugte sie sich nach vorne, um die Beine in Bewegung zu setzen, stolperte auf dem gleichen Weg zurück, den sie gekommen war, verfehlte aber diesmal den Bierkastenturm und stürzte sich auf einen der Kühlschränke, an dem sie sich dann wieder aufrichtete, was ihn fast zum Umkippen brachte. Ich öffnete ihr die Lagertür, sie wankte raus, drehte sich um und verabschiedete sich lautstark mit „Aber dass Eintracht Frankfurt abgestiegen ist – das ist der Hammer!“ zurück in die Nacht. Ich schloss die Tür, zog die Läden runter und verließ die Nachtschicht durch den Hinterausgang.

 

 

 

 

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