Paul und ich waren jetzt schon eine Woche in Taroudannt, in der Oasenstadt der Berber im fruchtbaren Souss-Tal. Hier regnet es nur drei Mal im Jahr und trotzdem ist das Klima in dieser Ebene, die geradewegs nach Agadir zum Meer führt, gar nicht so übel. Unser Gewürzhändler im Souk bestand darauf, dass wir auch bergsteigen müssen, um Marokko wirklich kennenzulernen. Und so kauften wir uns Karten für den Atlas-Express, der uns die ersten zweieinhalb tausend Meter hoch bringen sollte und den Rest von der Basishütte bis auf die viertausend Meter vom Jbel Toubkal würden wir dann schon irgendwie schaffen. Aber morgens um Sechs standen wir vor einer völlig überladenen, blauen Riesenwurst mit dem Radstand eines Sattelschleppers und waren uns da nicht mehr so sicher. Der hatte mindestens 20, eher 30 Jahre auf dem Tacho. Bis auf einen Reifen gab es kaum Profil auf dem Gummi. Auf dem Dach klemmten mehrere Schafe und Ziegen, die sich mit Seilen verzurrt den Platz mit Riesenkoffern teilten. Einen einzigen Kaffee nahmen wir uns noch vom Hotel aus mit, dazu drei Liter vom guten Sidi Harazim Wasser und zwei Bananen vom Vortag, die es in dieser Hitze keine zwei Stunden mehr überstehen würden. Gleich würde sich die Sonne ins Zeug legen, während ich eine letzte Zigarette zog und auf dieses Gefährt starrte – bis der Fahrer hupte und dann ging das los.
Sieben Stunden standen auf dem Fahrplan. Auf den ersten hundert Kilometern zogen Wüsten an uns vorbei, trockene Felder, Kakteen, Sand, viel Sand, manchmal eine Karawane mit Kamelen und immer wieder überraschend: Mitten im Nirgendwo sitzen Menschen an der Straße, als wenn sie dort hingehören und auf etwas warten, wovon wir nichts wissen. Weil es schon bald ziemlich heiß im dröhnenden Atlas-Express wurde, zog ich die erste Flasche Wasser zügig weg. Aber anders als draußen, wo wir uns bewegten, musste ich auch ziemlich bald aufs Klo. Der für die Berge viel zu große Reisebus quälte sich die Serpentinen hoch. In jeder Rechtskurve sah ich in den Abgrund und es sah wegen des langen Radstands so aus, als ob der Bus drüber schwebte, während die Reifen noch gerade so auf der Straße blieben. Aber es kam noch heftiger. Je höher wir kurvten, desto mehr Schlaglöcher und Geröll kamen jetzt dazu und irgendwann dachte ich an nichts mehr anderes, als ans Pissen. Ich öffnete schon mal den Gürtel und sah Paul an, dem es genauso ging. Der Fahrer wollte es offenbar in neuer Rekordzeit hinter sich bringen und die alten Stoßdämpfer sorgten für ordentlich Rumms, während wir in den Kurven weiteres Geröll in den Abgrund beförderten. Unten im Tal entdeckte ich eine ausgebrannte Busleiche, später noch einen LKW, einen Betonmischer und dann noch einen LKW, was mich kurzfristig den Druck in meiner Blase vergessen ließ. Aber irgendwann ging es einfach nicht mehr und ich kämpfte mich nach vorn und fragte den Kutscher nach einem kurzen Stopp. Er kurvte noch ein paar Mal nach links und rechts und hielt dann auf einer Passhöhe an. Ein einzelner kleiner Busch stand da, hinter den wir uns beide klemmten, während uns die komplette Mannschaft aus den Bus-Fenstern dabei zusah und obwohl ich musste wie die Hölle, kriegte ich kaum einen Tropfen raus und dann hupte der Fahrer auch schon wieder, verdammt nochmal!
Aber wir schafften es doch noch bis ans Ziel, diesem kleinen Dorf im Nirgendwo des hohen Atlas, rundherum nur Berge und ich weiß noch genau, wie wir dem Bus nachsahen, wie er in einer riesigen Wolke voller Staub verschwand. Als wir wieder klar sahen, war das einzige Café des Dorfs nicht schwer zu finden. Wir erledigten das mit dem Wasser und fragten nach dem Transport zum Basislager, wie man es uns in Taroudannt empfohlen hatte. Um Vier käme der, sagte der Mann im Café, das gleichzeitig Kiosk und Mittelpunkt der vielleicht zehn oder fünfzehn Hütten im Dorf war. Es war eine skurrile Szene wie aus einem Western. Drei Stunden lang Zeit vor dem Café, direkt an der Staubpiste, an einem Holztisch mit zwei Stühlen, saßen wir neben unseren Rucksäcken bei frischem Pfefferminztee und warteten auf irgendwas, was um Vier passieren sollte. Dazwischen geschah nichts, nicht mal ein einziges durchfahrendes Auto. Dann endlich passierte was, einer dieser Baustellen-Trucks für Sand oder Kies mit offener Ladefläche kam angerauscht, mit sechs Marokkanern auf der Pritsche. Der LKW hielt genau vor dem Café, weil der Ladenbesitzer auf die Straße stürzte und ihn mit wildem Gefuchtel zum Stehen brachte. Wie sich herausstellte, war genau das unser Shuttle zum Basislager, was ich wiederum sehr cool fand, weil ich noch nie auf einer Ladefläche eines LKWs mitfahren durfte. Außer uns nahm er noch vier weitere Mitfahrer auf, so dass wir schließlich mit vierzehn Mann plus Gepäck die kleine Geröllpiste den Berg hoch donnerten. Die Basisstation stellte sich als einfache Holz-Hütte mit acht Schlafplätzen raus und keine Ahnung, wo die anderen wohnten, aber als es Nacht wurde, waren wir die einzigen, die ihre Schlafsäcke auf die Matratzen legten. Die anderen waren in nahe gelegene Bergdörfer weiter gewandert. Es war kilometerweit der einzige mögliche Schlafplatz und es gab auch nur diesen einen Shuttle dorthin und wir zahlten für alles zusammen weniger, als das Hotel in Taroudannt kostete.
Morgens frühstückten wir vom Proviant, den wir uns vom Bergdorf aus mitgenommen hatten. Dann packten wir die Rucksäcke so, dass nur das Nötigste übrig blieb: zwei Schlafsäcke, den Gaskocher, ein paar Brote, die Dosensuppen und ließen den Rest in einem Versteck direkt neben der Hütte. Bis zum Gipfel waren es jetzt immerhin noch mehr als 1.500 Höhenmeter zu Fuß, also zogen wir zackig los, aber bald wurde die Luft immer dünner und die Pausen immer häufiger. Es war, als ob uns jemand den Sauerstoff abdrehte. Unterwegs sahen wir die Bergdörfer der Berber, diese immer gleich aussehenden kleinen weißen Häuser mit Kuppeldächern und ab und an trafen wir einen Bauern mit Maultieren oder Zwergeseln, die schwer beladen mit Reis, Holz oder anderem was man so braucht, unterwegs waren. Die Mulis mussten fürchterlich schwer ackern, aber die Bauern hatten es auch nicht leicht. Esel streiken manchmal völlig unvermittelt und bleiben genau da stehen, wo sie sind. Und dann dauert es halt, bis sie sich wieder bewegen. Je höher wir kamen, desto öfter sahen wir Schneefelder und Gletscher, die das ganze Jahr über dort zu sehen sind. Ungefähr eine Stunde vor dem Gipfel verschwand die Sonne und wir fanden wir einen Felsvorsprung zum Übernachten, außerdem einen Bach mit frischem Quellwasser. Beim Versuch, den Topf dort einzutauchen, rutschte ich aus und brachte es fertig, mit der halben Jeans einzutauchen. Verdammt nochmal! Wir waren bei warmem Sommerwetter auf die höchsten Gipfel des Atlas gestiegen und jetzt stand ich in meiner nassen Jeans und fror. Das letzte Highlight des Tages war unsere warme Suppe, aber ohne Jeans wurde es so massiv kalt im Schlafsack, dass ich nach einer Stunde aufwachte und meinen Schlafsack an den von Paul drückte. Gegen Morgen schlief ich vor Erschöpfung für etwa eine Stunde ein, aber dann war es wieder vorbei und als um Sechs die ersten Sonnenstrahlen kamen, begann ich damit, mir mit dem Absingen sämtlicher Beatles-Texte die Zeit zu vertreiben. Es war eine der härtesten Nächte meines Lebens, aber irgendwie schaffte ich es doch und als ich mit Paul nach dem Frühstück den ersten Joint teilte, war die Welt schon wieder in Ordnung.
Dann erledigten wir auch den Rest des Toubkals und gönnten uns eine Stunde auf dem höchsten Punkt Marokkos, bevor wir die ganzen 1.500 Meter wieder zurück ins Basislager abstiegen, womit wir uns richtig beeilen mussten. Unten war es schon wieder dunkel, als wir ankamen und beinahe hätte ich mir noch die Gräten gebrochen, weil ich nichts mehr sah und einmal übel stürzte. Aber das war uns letztendlich auch egal, weil wir es geschafft hatten und es gab uns ein gutes Gefühl, dieses Abenteuer im Atlas irgendwie gemeistert zu haben, obwohl wir null vorbereitet und einfach drauf los marschiert waren. Ich bin nie ein großer Bergsteiger geworden und auf so vielen Gipfeln war ich nicht, erst recht nicht mehr in dieser Höhe. Aber ich weiß noch bis heute, wie sich das damals anfühlte dort oben und es gehört zu meinen größten Momenten dieser Reise, von der ich damals dachte, so was will ich mein Leben lang machen und nichts mehr anderes. Am nächsten Tag machten wir uns auf nach Meknes, in die Königsstadt.
*
*
*
Les aventures marocaines (1)
Les aventures marocaines (2)
Les aventures marocaines (3)
Les aventures marocaines (4)
Les aventures marocaines (5)
*
*
*
*************
*