DoppelPlusUngut

Wo ich ihn kennenlernte, weiß ich nicht mehr. Die erste Erinnerung, die ich an Enrico habe, ist, wie wir an einem lauen Sommerabend im Garten meiner Eltern saßen. Er bastelte an einem Joint und wir besprachen, was wir mit dem Abend noch so anfangen. Wir waren uns sehr ähnlich, Enrico und ich, aber in einem schlug er mich um Längen. Er feierte noch viel heftiger als ich und opferte dafür sogar Freundschaften und so kam es dann schließlich auch mit uns. Aber an diesem Abend wusste ich noch nichts davon. Irgendwer, den ich im Dorf traf, hatte was von einer privaten Geburtstagsfeier gehört. Davon erzählte ich Enrico und obwohl keiner von uns wusste wer oder wo oder warum, setzten wir uns in meinen alten Kadett, suchten die Feier und fanden sie schließlich auch. Da wir schon reichlich breit waren, machten wir uns übers Buffet her, tanzten eine Weile mit Frauen, die wir nicht kannten und verschwanden dann wieder.

Ein anderes Mal waren wir tatsächlich eingeladen. Bei dem Sohn eines bekannten und erfolgreichen Kaufhausbesitzers und der war auch ein großer Kiffer vor dem Herrn. Außerdem war er bekannt dafür, seinen weißen Porsche stets barfuß zu fahren. Natürlich hatte der viel mehr Kohle als wir alle zusammen und so sah ich an diesem Abend den größten Haschischklotz aller Zeiten, den er kunstvoll und mit viel Fantasie zu einem überdimensionalen Tennisball geformt hatte. Sozusagen als Protest, weil sein Alter von ihm verlangte, Tennis zu spielen. An diesem Abend entwickelte sich der übliche Fressflash so heftig, dass ich die ganze Schüssel Nudelsalat, welche die Haushälterin vorher liebevoll zubereitet hatte, alleine niedermachte.

Zuhause liebte ich es, einen Abend mit Freunden zu verbringen und zu einem guten Rotwein eine gepflegte Wasserpfeife zu bauen, aber wenn Enrico dabei war, musste man sein Dope rationieren. Und er wusste stets, wo es was zu kaufen gab – solange ich dafür zahlte. Weil er keinen Führerschein hatte, waren wir ständig mit meiner Wanne unterwegs und besuchten irgendwelche Junkies, für die das Dealen Routine war. Die brauchten das Geld für den harten Stoff und manches Mal sah ich ihnen beim Spritzen zu und half ihnen sogar dabei, bevor sie wie in Zeitlupe rückwärts aufs Bett kippten. Ich war fasziniert davon, wie man binnen Sekunden in einen komplett anderen Film abtauchen kann, aber ich hätte es nie selbst fertiggebracht, weil ich Angst und Respekt davor hatte, dass das mit den Kindern vom Bahnhof Zoo stimmen könnte.

Enrico pennte auch ab und zu bei mir. Er hatte sich für zwölf Jahre bei der Bundeswehr verpflichtet, weil seine Mutter darauf bestanden hatte. Das war absurd, weil ich seinen Drogenkonsum kannte, aber als ich später erfuhr, dass er dort schon seit Wochen nicht mehr aufgetaucht war, erschien es mir wieder ganz passend. Die beiden Soldaten, die Tage später bei mir klingelten und nach ihm fragten, erzählten es mir. Sie sahen aus wie Rambos mit Armbinden, auf denen „Feldjäger“ stand. Ich war so überrascht, dass ich wahrheitsgemäß „Nein“ sagte, dass er bei mir gepennt hätte und dann wieder verschwand. „Komisch“, dachte ich. Wie kommen die jetzt da drauf, dass er ausgerechnet bei mir sein könnte? Hatte er ihnen das etwa erzählt? Das hatte ich mir einfach nicht vorstellen können. Abends rief er bei mir an. Sein Ausweis war verschwunden. Ich erzählte ihm, dass ich ihn nicht hatte und auch nicht fand – und das stimmte auch. Aber er glaubte mir nicht. Er bestand darauf, dass er ihn bei mir verloren hatte. Anscheinend steckte er so knietief in der Scheiße, dass jemand neben ihm stand, der das glauben sollte. Es wurde immer seltsamer mit ihm.

Tags darauf klingelte es wieder an der Tür und als ich aufmachte, standen drei gar furchterregende Gestalten im Hausflur. Einer von ihnen war übers ganze Gesicht tätowiert und ein anderer ließ seine Muskeln spielen, mit denen er vermutlich ein beachtliches Loch in meine Tür gehämmert hätte. Gemeinsam sahen sie wie das Mordkommando aus einem schlechten Krimi. „Enrico“ brummte die bunte Hackfresse, „ist der da drin?“. „Kommt rein, Jungs“, sagte ich, öffnete die Tür und zeigte auf die Couch. Genau das hatten sie am wenigsten erwartet und als sie sich setzten und ich ihnen ein kühles Bier unter die Nase schob, entspannte sich die Situation. Die anfängliche Feindseligkeit kippte sogar ins genaue Gegenteil. Wir plauderten über dies und das und ich erzählte auch ihnen, dass ich wirklich nicht wusste, wo er war und dass er bei mir übernachtet hatte und dass er seinen Ausweis vermisst.

Meine entwaffnende Ehrlichkeit rettete mich. „Wer hat Euch beauftragt?“, fragte ich – und es stellte sich heraus, dass es Enricos Mutter war und sie einen ordentlichen Betrag dafür abgedrückt hatte, dass sie ihren allerliebsten Sohn aus meinen Fesseln befreien, in die er unschuldig geraten war. Enrico hatte sich anscheinend um den Verstand geplaudert, als er seinen eigenen Arsch retten wollte und seiner Alten erzählt, dass er sich mit mir, einem wohl schwer gefährlichen Kriminellen eingelassen hatte, der an seiner ganzen Misere die Hauptschuld trägt. Jedenfalls glaubte ihm seine Mutter und Mütter glauben nunmal alles, was ihre Brut ihnen erzählt. Und jetzt hatte sie es auf mich abgesehen. Deswegen auch diese Feldjäger, dachte ich. Aber es kam noch schlimmer!

Kurz danach tauchte Muddi auf, als sie rauskriegte, dass das mit den bezahlten Schlägern schief gelaufen war. Nachdem ich die Tür misstrauisch einen Spalt weit öffnete, fing sie im Hausflur damit an, mich voller Zorn und Wut und Tränen anzuschreien. Was ich ihrem Sohn angetan hätte, dass sie mich hinter Gittern bringen werde und überhaupt Gott mich für das ganze Haschisch spritzen bestrafen werde. Ich versuchte mir vorzustellen, wie sie es mit ihrer Verzweiflung und ihren Scheinen geschafft hatte, die Schläger zu überzeugen und was sie ihnen wohl erzählt hatte. Weil ich jetzt schon gut in Übung war, sagte ich auch zu ihr genau das, was ich schon den Feldjägern und den Gorillas geantwortet hatte, aber sie schrie im Hausgang rum, sie wisse genau, dass ihr Sohn in meiner Opiumhöhle sei und ich ihn schließlich abhängig von diesem Teufelszeug gemacht hatte. Und darauf fiel mir wirklich nichts mehr ein, außer, dass ich das natürlich jetzt zugeben müsse und ob sie auch was von dem Zeug haben wolle.

Danach war zwei Tage Ruhe, aber gerade als ich mich abends entspannen wollte und mir einen Spliff zum Feierabend gönnte, klingelte es wieder an der Tür und dieses Mal standen drei Männer von der Kripo im Hausflur, wovon mir einer seinen Ausweis vor die Nase hielt. Er fragte mich, ob er mal eben reinkommen kann und schon standen sie alle drei in meiner Bude und fingen an, unentspannte Dinge derart von sich zu geben, dass sie sich jetzt mal umsehen müssen wegen Enrico und Opium und alledem. Ich sagte, von mir aus könnten sie meine Bude auseinander nehmen, aber wenn sie was finden, sollen sie mir was davon abgeben. Ich setzte mich hin und ließ sie machen, aber dann fiel mir der halb fertig gerollte Joint vor mir wieder ein und ich wünschte mir einmal mehr, meine vorlaute Klappe zu halten, wenn es drauf ankommt.

Und dann fingen sie tatsächlich an, wie die Drogenhunde zu schnüffeln. Schauten in meine Schränke, leerten den Wäschekorb aus, sahen in die Lampenschale, unter der Spüle und hinter den Fußleisten nach, zogen eine Pfeffermühle unterm Bett raus, die ich seit Jahren suchte und entdeckten sogar die abgenagten Knochen meiner Hausratte namens Ingo, die er unter dem Sofa verscharrt hatte. Nur zu dem bisschen Dope, das auf dem Tisch lag, da kam überhaupt nichts von den Burschen. „Okay“, sagte der mit dem Ausweis, er werde darüber einen Bericht schreiben müssen und es könnte sein, dass man mir noch eine Vorladung zustellt, weil ich in einer Sache die Wahrheit sagen muss, über die er mir jetzt nichts verraten darf. „Großartig – ich empfehle mich“, sagte ich zum Abschied und ließ mich zurück auf die Couch fallen.

Während ich das Ding zu Ende rollte, dachte ich über Enrico nach und wie sich die Dinge in den letzten Tagen überschlugen. Was, wenn das jetzt nicht aufhörte und sich die Alte immer neuen Terror ausdenken würde? Irgendwann musste sie doch selbst drauf kommen, dass er log und seine Stories nicht stimmen konnten. Na jedenfalls, die Pointe der Geschichte ist eigentlich die, dass ich Jahre später beim Auszug tatsächlich seinen Ausweis fand. Er war irgendwie so vertrackt in einen Spalt zwischen Rahmen und Bettgestell gerutscht, dass er sich dort verklemmt hatte und so lange steckenblieb, bis ich das Bett auseinander baute. Man muss manchmal einfach etwas Geduld haben. Dann lösen sich die Dinge wie von selbst.

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