Die andere Seite des Spiegels


Okay, ich hatte mir das Ganze etwas anders vorgestellt, aber es funktionierte wirklich auf genau diese Art: Wenn man lange genug bei den Stichsägeblättern rumstand, kam immer ein Depp vorbei. Der Trick dabei war, sich einfach genau so zu verhalten. Ich schaute mir die hauchdünnen Päckchen zu zehn, zwölf oder zwanzig Mark eine Weile an und nahm dann eins davon in die Hand, während ich angeblich weiter suchte. Nach 'ner Weile tat jemand neben mir genau das Gleiche und ich tappte einen Gang weiter. Der Job war damit bereits erledigt. Wichtig war eigentlich nur noch, den Idioten mit dem Zeugs in der Hand weggehen zu sehen. Dann stellte man sich in den Kassenbereich und blätterte Zeitschriften durch oder flirtete mit der Kleinen aus dem Gartencenter. Manche brauchten nur fünf Minuten, andere 'ne geschlagene halbe Stunde, bis sie ihre Mutprobe hinter sich hatten. Aber alle kamen sie ohne die Dinger an der Kasse an. Dann reihte man sich dahinter ein und die Kassiererin wusste schon Bescheid, musste sich aber natürlich beherrschen und gute Miene dazu machen. Jetzt nur noch beobachten, was auf's Band kam und kurz nach der Kasse den üblichen Spruch "Entschuldigung, aber ich glaube, Sie haben vergessen etwas zu zahlen" und das war's dann. Das war alles. Die meisten gingen freiwillig mit in's Büro. Falls jemand auf Drama gebürstet war, reichte ein lässiges "Bitte mal die 35 für Blaulicht" in Richtung der Kassiererin und die Sache war erledigt. Es gab überhaupt kein Codewort für die Polente, noch nicht mal 'ne 35, aber das zog immer.

Es war kein guter Job, um sich Freunde zu machen. Es war auch sonst kein guter Job, aber welcher war das schon? Man lernte die Dinge von der anderen Seite des Spiegels kennen und das war es wert genug. Reich wurde man damit nicht, die Bezahlung war unter aller Sau. Außer für Cem, den Türken. Der verdiente hier ein Vermögen. Cem war die coolste Sau von uns allen. Wir waren in den 90ern, also traute auch niemand ausgerechnet dem Türken zu, ein Fänger zu sein. Wir nannten es immer "fangen". Es gab dem ganzen eine sportliche Note. Ich "fing" nie mehr als einen am Tag, weil das die vorgesehene Quote war. Sie taten mir auch echt leid. Aber Cem zog immer drei bis fünf am Tag raus. Er war mit Abstand der beste Fänger von uns allen. Die Detektive wurden in verschiedenen Märkten eingesetzt. Nur Cem arbeitete immer im gleichen. Ein Wunder, dass ihn noch nicht alle Diebe der Stadt kannten. Sobald ich meinen täglichen Depp gefangen hatte, indem ich mich an die Sägeblätter stellte, ließ ich den Tag sausen.

Im Kaufhaus eingesetzt, gab es eine Menge zu sehen. An den Regalen mit den Süßigkeiten beobachtete ich die Schüler, wie sie die Packungen aufrissen und sich dran bedienten. Wenn Sie genug davon hatten, ging ich ihnen nach und sprach sie an: "Ihr wisst, dass es hier Detektive im Laden gibt, oder?" Sie schauten mich mit großen und angsterfüllten Augen an, jederzeit bereit, Fersengeld zu geben und kriegten kein Wort raus. Einmal sagte einer "Na und?" und ich kassierte ihn ein. Meistens reichte es, den Ausweis zu ziehen und ich sah sie nie wieder. Ich brachte es nie fertig, sie zu fangen, um hinterher mit ihren Eltern darüber zu verhandeln, dass das ganz bestimmt noch nie vorgekommen sei. Ich scheuchte sie lieber auf meine Weise weg.

Außer zu Kindern war ich auch zu Hausfrauen nachsichtig, denn das Leben war für sie schon hart genug. Also ließ ich ihnen ihren Spaß am Nachmittag, wenn ich morgens schon den Stichsägenfang hinter mir hatte. Hausfrauen stand ihr Leben meistens ins Gesicht geschrieben. Sie liefen mit diesem typischen Ausdruck zwischen Qual und Langeweile durch die Regale und stopften sich bevorzugt Unsinniges wie Rasierklingen in die Taschen oder eine von den teuren Cremes in der Kosmetikabteilung, damit sie für diesen einen Moment noch damit klar kamen, dass der Zug abgefahren war. Eines Tages lernte ich ein besonderes Prachtexemplar der Sorte 'Fickt Euer eigenes Leben' in der Fotoabteilung kennen, wie sie gerade den mit den Urlaubsbildern gefüllten Umschlag in der Tasche versenkte, ohne sie an der Kasse zu zahlen. Also sagte ich "Entschuldigung, aber ich…" und schon rannte sie mit einem Affenzahn auf die Glastür am Eingang zu, schlug mit einem lauten Knall frontal auf der Glasscheibe auf und sich selbst damit kurzfristig k.o.. Sie berappelte sich dann aber wieder, flitzte ohne die fallengelassenen Tasche auf die Straße – und weg war sie. Ich sammelte in aller Ruhe Käse, Lippenstift und drei Pfund Gehacktes auf und betrachtete mir dann die Bilder. Die Adresse war fein säuberlich auf dem Umschlag notiert, denn die Bilder wurden ja verschickt, wenn sie keiner abholte oder im falschen Markt landeten. Auf einem davon saß Gerda M. im Badeanzug auf der Hotelveranda auf Malle und gab sich Mühe, nicht nach Hausfrau auszusehen. Als sie zwanzig Minuten später reumütig zurückkehrte, gaben wir uns auch alle große Mühe, nicht nach schadenfrohen Besserwissern auszusehen, aber der Arsch von Marktleiter fing an, blöd zu grinsen. Ich hasste ihn dafür. Es war eindeutig der beschissenste Moment in ihrem Leben, aber der Typ grinste, als ob er den Hauptgewinn gezogen hätte.

In den Drogeriemärkten war es am einfachsten. Es gab diese Lochwände aus Eisen, an denen die Artikel eingehakt wurden und die Regale befestigt waren. Hinter den Lochwänden war ein schmaler Gang freigelassen und man konnte im Dunkeln um den ganzen Markt herumlaufen, ohne gesehen zu werden. Anfangs war das spannend. Es hatte was von Spion im Auftrag Ihrer Majestät, aber nach zwei Stunden Lochkino wurde es langweilig und ich hockte mich auf den Boden, um dort die Party vom Vortag rauszuschlafen oder für die Nacht vorzusorgen. Manchmal wurde ich vom eigenen Schnarchen wach. Dann lugte ich durch die Löcher und sah mir die ratlosen Gesichter an, wie sie langsam aber sicher den Gedanken kneteten, beobachtet zu werden. Ein besonderer Moment. Du erkennst, wie ihnen langsam klar wird, was hier gerade vor sich geht und wie sie sich dabei fühlen. Man kann es lesen und das gibt einem das Gefühl von Überlegenheit, weil man weiß, was im nächsten Moment passiert.

Eines Tages schlurfte wie in Zeitlupe eine Nonne in ihrer schwarzen Tracht rein, öffnete in aller Ruhe ihre Einkaufstasche, steckte eine 100er Packung Hefetabletten ein und verließ den Laden im selben Tempo wieder durch den Eingang. Ich hatte Mühe, ihr schnell genug zu folgen, weil ich von dem mir gebotenen Schauspiel so überwältigt war, aber das konnte ich mir keinesfalls entgehen lassen. Später im Büro flehte sie mich unter Tränen an, den Durchschlag des Protokolls für die Polizei zu vernichten und ich tat ihr den Gefallen. Allein schon aus Respekt vor dieser souveränen Leistung. Ein einzigartiger Fang. Sie war schon fast 90, wie mir ihr Ausweis verriet, aber immer noch ganz schön auf Zack. Ich hätte es nie fertiggebracht, sie den Grünen zu übergeben.

Ein anderes Mal krallte sich eine Junkiebraut das komplette Lippenstiftlager der ausliegenden Muster. Es war einfach zu offensichtlich, um sie laufen zu lassen. Auch wenn mir klar war, dass ihr das Geld für die Pampe nicht mal den nächsten Schuss brachte. Ich sprach sie erst vor dem Laden an und sie kehrte wie selbstverständlich mit mir um. Sie zeigte mir ihren Ausweis und wir erledigten den Papierkram wie echte Profis. Dann fragte sie mich nach einer Zigarette und wir rauchten gemeinsam und sahen uns schweigend dabei in die Augen. Nach drei Minuten drückte sie die Kippe elegant wie eine Lady in den Ascher, stand auf und schlingerte mit ihrem Junkiehintern aus dem Büro. Ich sah ihr nach, wie sie ohne zurückzublicken die Tür hinter sich schloss. Ich blieb noch eine Weile sitzen und dachte über den Job nach. Dann rief ich den Boss an und ließ mich auszahlen.

 

 

 

 

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Ein Kommentar

  1. Gelesen am 5.7.17 zur Kreuzberger Literaturwerkstatt (Nepomuk), Text 2

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