Blaues Wunder

 

"Dresden hat mir große Freude gemacht und meine Lust, an Kunst zu denken, wieder belebt. Es ist ein unglaublicher Schatz aller Art an diesem schönen Orte." 
Johann Wolfgang von Goethe

In Dresden zu leben, war kein Unglück. Es hat mich nicht übellauniger gemacht, nicht deprimiert und fetter bin ich auch nicht geworden. Aber nachdenklicher. Wer es gewohnt ist, für den Job mal hier und mal da zu leben, der kann Geschichten erzählen. Aber es ist überaus seltsam, dass mir zu Dresden Straßen und Plätze und Gebäude in den Sinn kommen, aber keine Geschichten und keine sozialen Kontakte. Wie kommt es, dass ich von kurztägigen Trips überall in Deutschland mehr zu erzählen weiß, als von zwei Jahren in Dresden? Der Job, für den ich in Dresden lebte, gibt davon jede Menge her, aber die Stadt selbst bleibt wie eine zauberhafte Hülle, unter der nichts zu erreichen ist.

Um das zu verstehen, bedarf es zunächst des Vergleichs zwischen Verpackung und Inhalt. Die Altstadt Dresdens, also alles rund um Frauenkirche, Semperoper, Hofkirche, Zwinger und Schloss, besteht heute aus einer Ansammlung feinst restaurierter Schmuckstücke, die so dicht aneinander grenzen, dass man während eines Spaziergangs von rund zwei Stunden mühelos zweihundert Fotomotive im Kasten hat. Im Süden schließt sich bis zum Hauptbahnhof mit der Prager Straße eine Prachtmeile der DDR an und im Norden die bis zum Albertplatz in großen Teilen sehenswerte Neustadt. Wer den Prenzlauer Berg in Berlin kennt und gerne dort leben würde, wird von der äußeren Neustadt bis zum Alaunplatz gleichfalls begeistert sein. Nimmt man jetzt noch den großen Garten und die Sehenswürdigkeiten entlang der Elbe hinzu, inklusive der Museen und Schlösser bis nach Pillnitz, gerät man als Kurzzeitbesucher schnell ins Schwärmen. Es gibt nicht wenige Erstbesucher, mich eingeschlossen, die Dresden als objektiv schönste Stadt Deutschlands einschätzen. Diese glänzende und wunderschöne Verpackung, steht jedoch seltsamer Weise im krassen Gegensatz zum Inhalt – den Dresdnerinnen und Dresdner. Die leben nämlich gar nicht dort, wo die Stadt am schönsten ist. Und sie sind permanent schlecht drauf, weil sie davon überzeugt sind, dass ihnen immerzu Unrecht geschieht.

Und dafür scheint es mehr Gründe zu geben, als man sie ordnen kann. Abgesehen vom Unglück, dass die Stadt im zweiten Weltkrieg bis auf die Grundmauern zerstört wurde, ist sie während der deutschen Teilung isoliert worden. Das Elbtal wurde zum sprichwörtlichen „Tal der Ahnungslosen“, weil Westfernsehen und UKW-Rundfunk überhaupt nicht oder nur unter größtem Aufwand zu empfangen waren. Nicht von der Hand zu weisen ist die Tatsache, dass es unter den „Grenzern“ und Stasi-Mitarbeitern eine weit überdurchschnittliche Quote an Dresdnern gab. Wer sich also gegen das Regime stellte, wurde nirgends so gründlich überwacht, wie dort. Wer auf Staatslinie arbeitete, kam nirgendwo schneller voran. Mit der Wiedervereinigung und der damit einhergehenden „feindlichen“ Übernahme durch die BRD, wurde das Elbtal innerhalb von nur drei Generationen zum mindestens dritten Mal wehrlos einer Ideologie zugeführt, die für das Volk nicht wählbar war. Das trifft auf alle neuen Bundesländer zu. Betrachtet man jedoch den Glanz und die Glorie des ehemaligen Königreichs Sachsen, dessen Zentrum Dresden war und die Geschichte der Stadt bis zum darauf folgenden Freistaat Sachsen nach dem ersten Weltkrieg, so wird einem bewusst, warum sich die Einwohner seit rund hundert Jahren zu den Verlierern zählen.

Hinzu kommt, dass seit der Wiedervereinigung zahllose Bauherren aus dem Westen die Stadt so gestalteten, wie es ihnen gefällt. Also selbst, wenn man den totalen Ausverkauf der Region seit den Neunzigern, inkusive dem Niedergang aller wirtschaftlichen Faktoren und die Bevölkerungsflucht gegen Westen ignoriert, bleiben immer noch abscheuliche Beispiele wie die architektonische Zerstörung des Postplatzes oder die Überflutung der Innenstadt mit hässlichen Einkaufsgalerien. Von der Waldschlößchenbrücke ganz zu schweigen. Dresden wurde in den letzten fünfundzwanzig Jahren in ein Korsett gezwängt, dass der immerzu ansteigenden Touristenflut und den damit einhergehenden Zwängen unter allen Umständen standhalten musste. In der DDR war das Leben nicht mal halb so bunt. Aber es folgte Regeln, die man kannte – inklusive dem Umgang mit Gastarbeitern und politisch Verfolgten. Auch damals war das Leben gegenüber allem Fremden von Misstrauen geprägt. Auch die Fremden gehörten zum aufgezwängten Konvolut des Arbeiter- und Bauernstaates. Bahn bricht sich dies durch AfD und Pegida erst, seitdem der Kampf gegen den Verlust des Arbeitsplatzes und der Selbstbestimmung sowie der Gestaltung der eigenen Stadt aussichtslos wurde. Und um das Treten nach unten zu trainieren, statt nach oben, dazu hatte der Dresdner ausreichend lange und oft Gelegenheit.

Wer wie ich vom Tourismus, beziehungsweise den öffentlichen Geldern profitierte, die der Stadt von außen zugeführt wurden und aus einem fremden Land (und dann auch noch Westdeutschland) zuzieht, wird nie Dresdner werden. Nach meinen Beobachtungen ist es schwer genug, die Einwohner zu verstehen, geschweige denn ein Teil davon zu werden. Das wird erfolgreich verhindert. Dabei hatte ich mich nach Kräften darum bemüht. Dutzende Male bin ich umhergezogen auf Stadtfesten und Veranstaltungen, aber das Gespräch verstummte schnell, wenn sie erfuhren, woher ich kam und vor allem warum. Der feste Vorsatz, sich hier wohlfühlen zu wollen, machte alles noch schlimmer. Den Dresdnern zuliebe hätte ich sogar sächsisch gelernt, doch als ich den Wunsch äußerte, fühlten sie sich auch noch verschaukelt, weil einer aus dem Westen kommt und freiwillig so reden will. Nein, Dresdner zu werden ist kein Zuckerschlecken, wenn es einem ernst damit ist.

Unter anderem erinnere ich mich an einen Besuch in einem Schachverein, zu dem ich geschlagene zwei Stunden den anderen beim Klötzchen-Schieben zusah, ohne dass mich jemand ansprach oder zum Spiel aufforderte – und als ich es selbst tat, einfach ignoriert wurde. Zu anderen Gelegenheiten endete das Interesse in dem Augenblick, als klar war, dass ich kein Tourist bin. Nach zwei Jahren Tätigkeit im Presseamt der Stadt Dresden wusste außer dem Kollegen am Schreibtisch gegenüber immer noch niemand, woher ich zugezogen war. „Soorbriggen? Geene Ahnung, wo des lieschd“.

Ich danke Dir, mein schönes Dresden, für die beiden Jahre, in denen ich Dein Gast war. Du hast mir viele schöne Augenblicke am Elbufer geschenkt und Deine Häuser, Straßen und Plätze zählen zu den schönsten Dingen, die ich je sah. Auch in stillen Zeiten war ich froh, bei Dir zu sein. Als Zugezogener blieb ich jedoch immer ein argwöhnisch beobachteter Fremdkörper in Dir. Und so sind die besten Geschichten, die ich von Dir zu erzählen weiß, schöne Momente der Einsamkeit. Man bleibt in Dir unter seinesgleichen – oder allein.

 

 

 

 

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