Suzanne

Immerwährende Blüten

Aus der Reihe "Lüricks". Heute Teil 4. Leonard Cohen – Suzanne.

Ich war vierzehn, als ich im Winter 1979 meinen Vater besuchte. Die Abende neigten sich schon gegen Sechs der absoluten Dunkelheit zu. Es war knackig kalt, aber es war ein trockener Winter und weil ich mich so genau an die Kälte erinnern kann, vermute ich, dass es der übliche Weihnachtsbesuch war. Der übliche Weihnachtsbesuch bestand darin, dass ich in der Woche vor dem 24. aufkreuzte, mich für ein paar Tage bei ihm und seiner Frau einquartierte und mich permanent aufs Essen freute. Nicht, dass es die Haute Cuisine war, aber sie kochte gut und wir hatten nicht viel zu besprechen, also gehörten die drei Mahlzeiten am Tag zu den Highlights des üblichen Weihnachtsbesuchs. Außerdem gab es dann ein Thema, über das wir reden konnten. Das Essen. Bei einem dieser üblichen Weihnachtsbesuche also, beschloss mein Vater aus mir heute immer noch unerfindlichen Gründen, mir rund fünfzig Langspielplatten aus seiner Sammlung zu schenken. Ich weiß bis heute nicht, warum er das getan hat. Nicht, dass es alle seiner LPs waren, nicht, dass es eine beliebige Auswahl war, nicht, dass es bereits die Umstellung auf CDs nach sich zog, denn 1979 waren es immer noch gute drei Jahre, bis die ersten Silberscheiben in die Läden kamen. Die am wahrscheinlichsten klingende Erklärung dafür war, dass er die Platten anderweitig, vielleicht auf Kassetten oder Tonbändern gespeichert hatte oder er hatte sich "Best of" – Compilations gekauft und war damit zufrieden und hat dann genau diese Interpreten für mich zusammengestellt. Das erklärt zumindest, warum gleich vier Scheiben von Leonard Cohen dabei waren. Es war das klügste, nachhaltigste, wertvollste und prägendste Geschenk, dass er mir je gemacht hat – und er kann sich heute nicht mal mehr dran erinnern! Obgleich eine Scheibe von Nat King Cole dabei war, die seiner Frau gehörte.

Das Paket war so was von wertvoll, dass es das Starterpaket für ein Leben eines Musikliebhabers, ja Musikfetischisten wurde, nahezu alle Scheiben daraus gelten heute als Perlen der Musikgeschichte. Und ich hab sie im Original. Eben auch die vier Langspieler des Leonard Cohen, darunter das 1967 erschienene Debütalbum des damals 33-jährigen Schriftstellers, Musikers und Malers, dessen erster Song "Suzanne" ist. Als ich nach dem besagten Weihnachtsurlaub die Platte zum ersten Mal durch die Nadel meines Dual-Plattenspielers über die damals schon hochwertigen Zwei-Wege-Boxen direkt durch das Ohr meinem Herzen zuführte, ergriff mich "Suzanne" vom ersten Takt an. Es schien mir geradewegs, als ob Leonard mir, mir ganz persönlich, etwas über das Leben erzählen will, über die Liebe und über die Wertschätzung gegenüber einer Frau namens Suzanne, die diese Zuneigung auch verdiente, weil sie Suzanne war. Das Stück klang von der ersten Sekunde an authentisch, ergreifend, wahrhaftig und echt. Ich zweifelte keinen Moment daran, dass Suzanne diesen Song verdient hatte und er weckte in mir, dem Vierzehnjährigen, eine Sehnsucht nach erfüllter Liebe und Lust, die nach meiner Vorstellung ihren Höhepunkt darin finden sollte, eines Tages einer Frau wie Suzanne meine Liebe zu gestehen und in diesem Augenblick des ergriffenen, wahrhaftigen Moments zu wissen, dass alles, alles gut ist.

Es dauerte nur wenige Umläufe, bis ich den Text drauf hatte. Aber ich verstand ihn nicht recht. Warum wandte er sich Suzanne zu, obwohl sie "half crazy" war? Wogen ihre liebevollen, erzählerischen Qualitäten ihre Entrücktheit auf? Dass sie ihn mit Tee und Orangen fütterte, na gut, aber viel mehr Ausgleich dürfte er durch die geistigen Reisen empfunden haben, auf den sie ihn mitnahm. Sie muss sehr zärtlich zu ihm gewesen sein, aber in keinem einzigen Wort des Textes wird erwähnt, dass er sie liebte. Nichts Explizites zu entdecken, keine Schmachterei, kein körperliches Verlangen und doch ist dieses ganze Lied, vom ersten bis zum letzten Wort eine einzige Liebeserklärung und ich fühle mit, ich bin es, der Suzanne seine Liebe erklärt, ohne das Wort selbst zu erwähnen. Es reißt mich geradezu hin, Suzanne zu gestehen, dass sie die eine ist, die es sein soll. Sie, die mit geschenkten Klamotten der Heilsarmee in einer windschiefen Hütte am Strand des Flusses neben einer absurden Kapelle wohnte, eine Kapelle, die Jesus zum Superstar stilisierte. Suzanne ist es, die mich durch ihr Wesen und ihre Sensibilität auf Reisen mitnimmt, denen ich mich nicht entziehen kann, weil ich von ihnen immer wusste, dass ich sie unternehmen will, aber nie dort ankam, bis Suzanne in mein Leben trat.

Es ist inzwischen ein offenes Geheimnis, dass es diese Suzanne wirklich gab. Es handelt sich um Suzanne Verdal, eine Lebenskünstlerin, die mein Bruder Leonard in den 60ern kennenlernte und die tatsächlich in dieser windschiefen Hütte am Fluss lebte und jeder, der bisher von diesem Lied berichtete, dichtete den beiden eine Liebesbeziehung an. Ob es so war, spielt wohl keine Rolle, aber alle Ergebnisse meiner Recherchen beschäftigen sich ausschließlich damit, ob sie es getan haben oder ob alles rein platonisch blieb. Es ist völlig egal. Für mich ist es immer das gute, alte gleiche und warmherzige Feeling, wenn ich die Nadel auf die Rille setze. Ich weiß dann, dass es gleich ein bisschen hier und da knackt, und in wenigen Sekunden die Klänge der Gitarre einsetzen, sehr bedacht, eindringlich in ihrer einfachen Klarheit, bevor Leonard damit beginnt, die Geschichte von Suzanne zu erzählen. Und so holprig die Übersetzungen auch klingen mögen – das Lied wird für immer eines der poetischsten Liebeserklärungen aller Zeiten bleiben.

(Anmerkung: der Song ist wie in allen Teilen meiner "Lüricks" – Reihe nicht wortwörtlich übersetzt, sondern so, wie ich ihn empfinde)

Suzanne zeigt dir ihren Platz am Fluss
Du kannst hören, wie die Schiffe vorbeifahren
Und eine Nacht bei ihr verbringen
Doch du weißt, dass sie halbverrückt ist
Aber genau darum bist du gekommen
Und sie bietet dir Tee und Orangen
Aus dem fernen China an

Und genau in dem Moment, in dem du ihr sagst
Dass du nicht ihr Mann sein kannst
Nimmt sie dich auf eine Reise mit
Und lässt den Fluss für sie antworten
Dass du immer schon ihr Liebhaber warst

Und du möchtest diese Reise mit ihr
Als vertrauter, blinder Passagier
Und du weißt, dass auch sie dir vertrauen wird
Weil du ihren perfekten Körper mit deiner Seele berührt hast

Und Jesus war wohl ein Segler
Weil er über's Wasser gehen konnte
Und er schaute sich eine lange Zeit
Von seinem einsamen Holzturm aus um

Und als er sich ganz sicher war
Dass ihn nur noch Ertrinkende sahen
Da sagte er: Alle Menschen sollen Segler sein
Bis die See sie frei gibt

Aber er selbst war längst am Ende
Noch bevor sich der Himmel öffnete
Allein gelassen, nahezu menschlich
Sank er mit seiner Weisheit wie ein Stein

Und du möchtest diese Reise mit ihm
Als vertrauter, blinder Passagier
Und du denkst, vielleicht wirst du ihm vertrauen
Weil er deinen perfekten Körper mit seiner Seele berührt hat

Suzanne nimmt deine Hand
Und führt dich zum Fluss
Sie trägt Lumpen und Federn
der Heilsarmee um die Ecke

Die Sonne brennt herab wie heißer Honig
Auf unsere Heilige vom Hafen 
Und sie zeigt dir den Weg
Durch den Müll und durch die Blumen
Da sind Helden im Seegras
Dort sind Kinder im Morgenlicht
Sie sehnen sich nach Liebe 
Und werden sich immer danach sehnen
Während Suzanne ihnen den Spiegel hält

Und du möchtest diese Reise mit ihr
Als vertrauter, blinder Passagier
Und du weißt, dass Du ihr vertrauen kannst
Weil sie deinen perfekten Körper mit ihrer Seele berührt hat

 

 

 

 

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Ein Kommentar

  1. Gelesen am 25.08. im Zimmer 16, Pankow, Text 2

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