Das war wieder knapp

Bild: PDPics/pixabay

Da saßen wir zu viert bei Ronnie am Küchentisch. Anfangs der Achtziger. Ronnie, Eddie, dann war da noch der Metzger und ich. Ronnie war mit Erika zusammen, das heißt, sie wohnten zwar zusammen, sahen sich aber nur gelegentlich, wenn sie zufällig mal gemeinsam zuhause waren. Das lag vor allem daran, dass beide geübte Säufer waren und sich ihre nüchternen Phasen selten überschnitten. Oft kam sie spät nachts nach Hause, winkte uns kurz zu und verschwand ins Bett. Aber in dieser denkwürdigen Nacht sahen wir sie nicht und Ronnie wusste natürlich auch nicht, wo sie war. Aus dem Stereo klang Frank Zappas tiefe Stimme, die wir neben King Crimson und den Stones am liebsten hörten. Wir mochten es grundsätzlich klassisch: Jimi Hendrix, John Lee Hooker oder die Krautrock-Bands gaben uns am meisten – Hauptsache, wir konnten mitsingen oder kannten wenigstens das Luftgitarrensolo. Es lief immer nur eine Seite der Schallplatte, bis einer von uns unbedingt und genau dieses eine Stück von der und der LP hören musste und dann kam die nächste Scheibe auf den Teller. Und es gab immer was zu erzählen, den ganzen Abend lang. Inspiriert von jeder Menge Bier und Dope erzählten wir uns eine Story nach der anderen auf den Tisch, oder Erinnerungen an die unzähligen Konzerte, die wir schon sahen und die meisten davon gemeinsam. Es war irgendwie faszinierend. Wir kannten uns nun alle schon so lange, dass jeder von uns über die anderen dachte, „ach, DIE Story, die kenn‘ ich“, aber dann wurde es doch was anderes und vielleicht lag es auch daran, dass sich die Geschichten mit der Zeit veränderten, größer, bunter und greller wurden. Wenn Du einen gute Geschichte hast und einen guten Sound vom Stereo und dabei größte Sorgfalt und Mühe auf das Bauen des nächsten Joints verwendest und dabei auch noch trinken, reden und ab und zu aufs Klo musst, dann vergeht die Zeit wie im Flug.

Meist kam so gegen Zehn einer auf die Idee, Skat zu spielen. Das war unsere zweitliebste Beschäftigung. Ich war deutlich der schlechteste Skatspieler von uns allen, aber manchmal half mir auch das große Kartenglück oder die Tatsache, dass mich drei Bier eher inspirierten als platt machten. Auch der dicke Metzger, der schon aufgrund seiner Körpermasse erst bei fünf Bier dort ankam, wo ich schon nach drei war, konnte gut damit umgehen. Nicht so wie Eddie. Er wusste faszinierend viel über Musik, aber ab einem gewissen Pegel vergaß er einfach, was schon ausgespielt war und fragte gerne mal, was gerade Trumpf war. All das war harmlos, nur auf Ronnie mussten wir immer aufpassen und es war eine gemeinsame Aufgabe für uns drei Übrigen. Ronnie war zweifellos am Höhepunkt seiner Karriere als Trinker. Er war noch längst nicht so weit, dass er fürs Zocken und Erzählen nicht mehr zu gebrauchen war. Aber wenn es nach Mitternacht wurde und sich zahllose leere Flaschen um ihn sammelten, dann mussten wir rechtzeitig Schluss machen, bevor er ungemütlich wurde. Ab einem gewissen Level hatte er die Angewohnheit, grundlos aggressiv zu werden, zur Not auch zu prügeln, falls er mit irgendwas nicht einverstanden war. Es war leicht daran zu erkennen, dass er über längere Phasen schwieg, aber gleichzeitig damit anfing, nervös mit dem Kopf zu zucken. Wir kannten das schon: Dnn war es besser, irgendeinen Vorwand raus zu hauen und es war Schluss mit Spielen. Wir räumten die Bude auf, so gut es unser Zustand zuließ und verpissten uns zur Nacht.

Jedenfalls, an diesem Abend befanden wir uns ungefähr in der Phase, in der das Skatspielen noch voll Spaß machte. Die Luft in Ronnies Wohnung, die in einem der übelsten Wohngegenden der Stadt im zwölften Stock eines Hochhauses lag, war von dem ganzen Qualm unserer Joints und Kippen zum Schneiden dick. Natürlich kam niemand auf die Idee, die Fenster aufzumachen – insbesondere deswegen nicht, weil man die einzigen Fenster nur zum Flur und damit zu den anderen Wohnungstüren hin öffnen konnte. Eddie gab mir ein unverschämt gutes Blatt und ich war gerade dabei, den dritten Bauern aufzusammeln, als es heftig an der Tür lärmte. Erst dachten wir, wir hätten uns verhört oder irgendeiner der Nachbarn hämmert gegen die Wand, was wir in der Regel ignorierten. Aber dann ballerte es nochmal heftig gegen die Tür. Eddie drehte die Musik runter. „Sofort aufmachen“, rief jemand von draußen. „Erika“, dachte jeder von uns, aber die Stimme passte nicht. Dann rummste es nochmal heftig an der Tür. „Polizei! Aufmachen!“ röhrte es von draußen. „Ach du Scheiße“, rief der Metzger und begann damit, hektisch die Drogen einzusammeln. Eddie stürzte zum Fenster um es aufzureißen, aber dann fiel ihm ein, dass es raus zu den Bullen führte. Er lief ein paar Mal aufgeregt zwischen Fenster und Tisch hin und her, fand den Lichtschalter und zack, waren wir alle im Dunkeln. „Lass das“, sagte Ronnie abgeklärt und klang dabei ungefähr so wie John Wayne. „Ich regel das“. Er stand auf, knipste das Licht wieder an und stapfte zur Tür. Er hatte mindestens schon acht Flaschen drin und wir wussten alle, was das bedeutete. Entweder würde er die beiden da draußen zu Kleinholz machen oder sie würden ihn regeln. Auf alle Fälle wurde es spannend und ich fing schon mal damit an, wie unbeteiligt die Flaschen einzusammeln. Im Aschenbecher lagen mehr als genügend Beweise, aber es war einfach zu spät, um die Situation angemessen zu klären.

„Was‘ los?“ hörte ich Ronnie fragen. „Sind Sie Ronnie?“ fragte eine Stimme.
„Wer will das wissen?“, sagte Ronnie.
„Kennen Sie eine Erika?“
„Nein“.
„Aber sie wohnt hier, sagt sie“.
„Und?“
„Na, wohnt sie jetzt hier oder nicht?“
„Kann sein“.
„Nach unseren Notizen wohnt sie jedenfalls hier“.
„Warum fragen Sie dann?“

Ich nickte dem Metzger zu und wusste, dass jemand dringend Unterstützung brauchen konnte. Wir gingen zur Tür, grüßten so freundlich wie es uns möglich war und klärten die Sache auf. Ronnie habe gerade verloren, erklärte ich. Und sei noch sauer, ergänzte der Metzger und was los sei mit Erika. „Hier ist unsere Karteikarte“, sagte einer der beiden Polizisten und reichte sie dem Metzger. „Sie sitzt dort in dieser Ausnüchterungszelle und Sie können sie abholen“, sagte der andere in Uniform. „Machen Sie das?“ fragte der Erste. „Ja, na klar“ sagte der Metzger. „Auf jeden Fall“, sagte ich. „Na gut – und jetzt bisschen leiser“, bellte wieder der Zweite. Ich sah Ronnie an. Er starrte geradeaus, ins Nirgendwo der Nacht und begann mit seinem nervösen Zucken. „Okay, wird gemacht“, sagte ich und legte beruhigend meinen Arm auf Ronnies Schulter, wohl wissend, dass es ein Risiko war. Er hätte genauso gut nach hinten auskeilen können, aber er starrte einfach nur geradeaus zwischen den beiden hindurch. Und dann drehten die Polizisten einfach um und gingen wieder. Ich hielt die Luft an und sah ihnen nach, bis sie vollends verschwunden waren. Dann erst pusteten wir durch. Auch Eddie, der sich inzwischen hinter uns aufgestellt hatte. „Hui, das war knapp“, sagte ich. „Und nüchtern bin ich auch wieder“, sagte Eddie. „Das war’s dann wohl für heute“, sagte der Metzger. „Die wussten wahrscheinlich gar nicht, wie Dope riecht“. Ronnie setzte sich wieder und starrte immer noch wie ein lebender Zombie ins Leere, während wir aufräumten. Dann stand er abrupt auf, schmiss dabei seine letzte halbvolle Flasche um und verzog sich zum Pennen. Wir knipsten den Stereo aus, räumten in der Küche die Reste zusammen und klappten das Fenster auf. Als wir später von außen die Tür zuzogen, fragte ich: „Was ist jetzt mit Erika?“.

„Ach“, sagte der Metzger, „die kommt schon zurecht“.

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