Bild: Google Maps
Krawutschke war der Name. Lange Zeit fiel er mir nicht mehr ein, aber jetzt erinnere ich mich wieder. Sie war die übelst gelaunte Person, die ich kannte und sie war oft so scheiße drauf, dass sie einen beim Reingehen nicht mal ansah. Sie saß in ihrem Glaskasten und schrieb oder las irgendwas. Wenn ich das Wohnheim betrat und einfach nur geradeaus zum Aufzug stiefelte, sah sie nicht mal hoch von ihren Papieren, aber ich wusste, dass sie wusste, wer da reinkam – so viele wohnten da jetzt auch nicht. Aufmerksamkeit kriegte ich von ihr nur, wenn ich um ihren Glaskasten herum zu den Briefkästen ging, die hatte sie nämlich selbst gefüttert. Morgens kam der Briefträger, legte die Post ab und sie persönlich sortierte sie ein. Und Krawutschke wusste immer ganz genau, was sie da rein stopfte. Wenn es Post von der Verwaltung war oder wenn Briefe erkennbar von Polizei, Finanzamt oder der Stadtverwaltung waren, dann achtete sie sehr genau drauf, dass der auch abgeholt wurde. Und wenn so ein Brief zwei Tage im Kasten gammelte und ich ihn nicht abholte, ja dann schaute sie plötzlich hoch wenn ich reinkam: „Sie haben noch Post in Ihrem Kasten“, sang sie in ihrer ganz eigenen Leier, die danach klang, als ob sie schadenfroh drauf wartete, dass ich irgendein Blitzerticket oder einen Anhörungsbogen öffnete. Oder eine Abmahnung aus der Verwaltung. Dann sammelte ich meine Post ein, ohne sie zu öffnen und verschwand im Aufzug. Sie kannte uns alle, uns Zivis hier im Wohnheim und die ganzen Schwesternschülerinnen und natürlich auch die paar Ärzte in den oberen Stockwerken, die hier Dienstwohnungen hatten. Mehr als einmal konnte ich beobachten, dass sie zu denen ganz freundlich war, aber uns Zivis gegenüber verhielt sie sich ungefähr so wie eine Kröte zu Fischen oder Vögeln. Sie saß da einfach, glotzte irgendwo hin und wir waren ihr egal. Wenn ich sie was fragte, sah sie mich immer nur schräg an und brauchte dann eine Ewigkeit, aber 90% ihrer Antworten bestanden aus „woher soll ich das wissen“, „weiß ich nicht“, „muss ja nicht alles wissen“, „fragen Sie in der Verwaltung nach“ und die restlichen zehn Prozent aus einem schlichten „Nein“. Es war völlig sinnlos, sie irgendwas zu fragen und das hatte sie sich selbst so kultiviert.
Die zweite große Merkwürdigkeit war dieser Aufzug. Es passten, wenn wir ganz eng zusammen rückten, vier Erwachsene in diesen Aufzug, aber auf dem Schild stand „Zugelassen für 8 Personen“. Oft stellte ich mir vor, wie ich die übereinander stapeln müsste, um sie da rein zu quetschen. „So, du legst dich jetzt mal hier an die Wand und du setzt dich hier auf die Hüfte drauf und auf deinen Knien nimmst den noch mit. Dich stellen wir hier an die Wand, aber Gesicht zur Wand und die arme nach oben und du machst das auf der anderen Seite. Jetzt Du – siehst Du die Notklappe da oben? Da machst Du jetzt mal einen Klimmzug hoch und ich stütze dich mit meinen Schultern ab und zuletzt du ausgehungertes Kind – du hockst dich zwischen meine Beine und wenn die Tür schließt, atmest du tief ein, okay?“ So hätte es gehen können. Aber ich konnte es nie überprüfen, weil schon ab der dritten Person keiner mehr rein wollte. Der Aufzug hatte außerdem auch ein entscheidendes Handicap. Er blieb nämlich ständig irgendwo stecken. Er blieb so oft stecken, dass ich mir ziemlich sicher war, dass die Aufzugstechniker hier im Haus wohnten. Vielleicht hatten sie auch ein Einsatzfahrzeug um die Ecke geparkt, saßen da drin und warteten nur darauf, weil sie mindestens einmal am Tag ran mussten. Ich kannte den Aufzug aber ganz gut und war drauf vorbereitet. Weil er keine Innentür hatte, konnte ich zwischen zwei Etagen mit der Hand nach unten oder oben zum nächsten Verschlusshebel greifen. Den konnte ich von innen anziehen und dann eine der zwei Etagentüren aufschieben. Am nächsten Tag fuhr der aber wieder.
Das Haus hatte zehn Etagen und Platz für etwa 150 Bewohner. Mein Zimmer war das Erste in der vierten Etage. Das war gerade hoch genug um nach draußen Aussicht zu haben, aber tief genug, wenn der Aufzug wieder mal streikte. Neben mir wohnte noch ein Klaus, aber einer mit C. Das war der einzige C Claus, den ich je kennenlernte. Wir wohnten schon Wochen nebeneinander, ohne dass ich ihn je sah. Er lernte mich dadurch kennen, dass ich immer den Stereo aufdrehte, wenn ich nachts nach Hause kam. Wenn ich gewusst hätte, dass da jemand nebenan wohnt, hätte ich die Stones auch leiser gedreht, aber wie er mir später sagte, wartete er jede Nacht drauf und freute sich drüber. So wurden wir Freunde, der Klaus mit K und der mit C, spielten in seinem Zimmer die Nächte am Amiga durch und weil das mit Musik noch besser kam, bohrten wir einen Durchbruch zwischen den Zimmern für die Boxenkabel und schafften die Boxen auch zu ihm rüber. Abends gingen wir runter zur Tanke im Ort, kauften zwei Flaschen Spädelschalter (wie wir die Literflasche roten Landwein gerne nannten) und eine Packung schwarzen Krauser zum Selberdrehen und wenn wir morgens um Fünf ins Bett fielen, war es wieder Zeit für eine Krankmeldung.
An warmen Sonnentagen trafen wir Zivis uns gern auf dem Dach des Wohnheims. Dazu mussten wir bis in den Zehnten fahren, dann die Nottreppe noch eine Etage nach oben gehen und mit dem Vierkantschlüssel die Dachluke öffnen. Von hier oben aus konnte man über die ganze Klinik sehen, den umgebenden Wald und bis runter zur Stadt. Wir saßen im Kreis auf dem Teerdach, das mit kleinen Kieselsteinen ausgelegt war, besprachen die Weltlage oder erzählten unsere Lebensgeschichten, ließen die Joints kreisen und tranken dazu köstliche Limonade, die es in der Kantine gegen die Essensmarken gab, die wir monatlich kriegten. Was es dort an Essen gab, war weniger so der Knaller. Alle Kantinen die ich kannte, hatten dieselbe Krankheit, nämlich die sich immer wiederholenden Speisepläne. Wenn Du monatelang auf ein und dieselbe Kantine angewiesen bist, dann weißt du ganz genau, welches Menü du besser nicht bestellen solltest. Anfangs warnten wir uns gegenseitig, aber dann nahm das mit den Warnungen überhand und schließlich schien es attraktiver, die Essensmarken für die monatliche Lieferung an Landliebe-Joghurts aufzusparen. Und die waren ein beliebtes Mitbringsel zu den Dachmeetings. Eine Wochenration Essensmarken reichte für ca. 25 Landliebes. An manchen Tagen ernährten wir uns ausschließlich davon.
Manchmal kochten wir uns auch selbst was in den Gemeinschaftsküchen, von denen es in jeder Etage eine gab. Aber es war ratsam, sich alle Zutaten selbst zu besorgen und nicht darauf zu zählen, dass die Gewürze im Schrank oder die verbliebene Butter im Kühlschrank noch genießbar waren. Ich erinnere mich daran, dass wir nach einer leckeren Spaghetti Bolognese erst nach dem Essen entdeckten, dass sich das Basilikum im Glas bewegte. Andererseits tat man gut daran, die Zutaten genau zu kalkulieren und nichts übrig zu lassen, weil das ohnehin verschwand. Im Sommer war wenig Betrieb im Wohnheim und damit auch in den Küchen. Hauptsächlich deswegen kam Claus mit C darauf, dass wir unseren Alkohol auch selbst herstellen könnten, als ich ihm von der zentnerschweren Zwetschgenernte erzählte. Wir besorgten uns also die größtmöglichen Eimer, füllten sie randvoll mit überreifen Zwetschgen, dichteten sie ab und lagerten sie für vier Wochen in den Küchenschränken des Wohnheims – bis das ganze Haus danach roch und zwar so heftig, dass selbst Krawutschke eine Bemerkung derart machte, dass es hier faulig rieche. Dann kam der große Tag des Schnapsbrennens, aber irgendwie funktionierte das mit dem Destillieren und den Schnellkochtöpfen nicht so wie wir dachten und so entsorgten wir schließlich 100 Kilo durchgegärte Früchte im Birkenwäldchen hinterm Parkplatz, die selbst im Oktober noch ausdufteten.
Aber was mir natürlich am eindrücklichsten in Erinnerung bleibt, waren die legendären Feiern, zu denen wir ganze Etagen in eine riesige RocknRoll Landschaft verwandelten. Dann gab es mindestens drei Musikquellen und alle fünfzehn Zimmertüren standen auf und überall, in jedem Zimmer und auch im Flur, war richtig was los. In den Gemeinschaftsküchen stapelten sich die Gläser und wer mal durchschnaufen musste, ging aufs Dach oder unter die Dusche, von denen es in jeder Etage vier neben der Küche gab. Wenn es morgens immer weniger wurden, die durchhielten, fand sich immer noch wer mit etwas Speed in der Tasche und wer dann ganz bis zum Schluss durchhielt, blieb noch zum Mittagessen. Wenn keiner mehr anstoßen wollte und der ganze Küchen- und Flurboden bei jedem Schritt klebte, dass die Schuhe dran hafteten, war es Zeit für ne Mütze Schlaf. Und am Montag danach war es dann ganz okay, wenn wir es ohne Ansprache an Krawutschke vorbei schafften. Sie hatte ohnehin ihren eigenen Racheplan. Ihr großer Auftritt kam dann eine Woche später, wenn sie die Abmahnungen aus der Verwaltung in unsere Briefkästen stopfte.
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