Nina Hagen Band!

Die 50 besten Pop- und Rockalben aller Zeiten. Eine subjektive Auswahl. Heute:

Teil 3: Nina Hagen – Nina Hagen Band

(Hier geht es zu Teil 1. Dire Straits: Making Movies).

(Hier geht es zu Teil 2. Fleetwood Mac: Rumours).

Wir befinden uns im Jahr 1978. Die Bee Gees hatten mit „Tragedy“ ihren x-ten Abklatsch der Diskowelle glorifiziert, Donna Summer war einer der großen Popstars, John Travolta und Olivia Newton-John sangen ihre Songs aus „Grease“ rauf und runter, Amanda Lear und Abba beherrschten die Charts, kurzum: Alles war Disko. Selbst die Stones versuchten sich mit „Miss you“ an einem disco-ähnlichen Sound. Falls jemand überhaupt die Vier-Viertel-Phalanx durchbrechen konnte, so die allgemeine Erwartung, dann jemand, der das Gleiche auf Deutsch macht, was Rod Stewart („Da 'ya think I'm sexy?“) oder John Paul Young vormachten.

Um genau zu sein, war es an einem Samstagabend im Winter 1978/79. Die Alten waren nicht da, mit der Knutsch-Freundin hatte ich gerade den Apparat in der Telefonzelle auf dem Marktplatz zum Glühen gebracht und was ich sonst nie machte, brachte mir an diesem Abend eine Erleuchtung, die den Soundtrack meiner kompletten Pubertät bestimmen sollte – und ich bin verdammt dankbar dafür, dass es nicht Peter Maffay war. Ich drehte den Fernsehapparat an. Die Glotzen brauchten damals noch einige Zeit, bis sie auf Touren kamen und man Bild und Ton ordentlich sehen und hören konnte. Im Fernsehen liefen die dritten Programme nur bis 20 Uhr, dann war Einheitsprogramm in der ARD. Der vom WDR produzierte „Rockpalast“ musste daher warten bis etwa Mitternacht, aber manches Mal, so wusste ich, lohnt sich das. Und dann ging das los.

Es war eine Aufzeichnung aus dem West-Berliner Wintergarten. Sehr unprätentiös, geradezu gelangweilt, kündigte der Moderator die Nina-Hagen-Band an, von der ich vorher noch nie was gehört hatte. Heute kennt man selbst die Ost-Berliner-Zeiten von Nina, aber damals war die Mauer eben undurchlässig. Ein Aspekt, den man heute rückblickend oft vernachlässigt.  Ab dem Zeitpunkt des Einschaltens war ich verloren. Ich hatte noch nie sowas gehört und jedes einzelne Stück traf mich bis ins Mark. Die Texte waren unfassbar präzise, explizit und eröffneten mir, der ich bisher doch nur die ganzen deutschen Schlager und die englischen Disco-Hits kannte, unvorstellbare Höhen und Tiefen. „Ich war zu Hause unter meiner kalten Brause und da kam Herr Wichsmann unter meinen Wasserhahn“, machte mir schlagartig klar, dass es da draußen noch was anderes geben musste, als das, was ich als kleiner, blonder Konfirmant mir bisher so unter dem Leben vorgestellt hatte.

„Nina Hagen Band“ war das Debut von Nina in West-Deutschland. Als Tochter einer Schauspielerin und in dem Alter, in dem ich ihr erstmals zuhörte, von Wolf Biermann beeinflusst, blieb ihr quasi nichts anderes übrig, als ins Rampenlicht zu treten und ihre Mutter, mit der sie stets ein schwieriges Verhältnis pflegte, zu überflügeln. Als sie 1977 im Alter von 22 Jahren aus Ost- nach West-Berlin übersiedelte, traf sie die Kreuzberger Musiker Potschka, Mitteregger, Praeker und Heil. Die ersten drei spielten damals als „Lokomotive Kreuzberg“ zusammen. Gemeinsam mit Heil wurden sie zunächst die Nina Hagen Band, zwei Jahre später dann besser bekannt unter dem Namen „Spliff“. Die Band selbst war so exzellent besetzt, dass sie auch ohne Nina Hagen Karriere gemacht hätte. Mitteregger und Praeker waren zwei der produktivsten Songschreiber überhaupt und ihre nach 1980 erschienenen Platten waren allesamt Knaller. Die „Spliff Radio Show“ gehört zu den kreativsten Scheiben aller Zeiten. Doch als sie 1978 gemeinsam mit Nina Hagen spielten, geschah etwas, was für die deutsche Rockgeschichte mit Glücksfall nur unzureichend beschrieben ist. Es war die genialste Combo, die man sich nur vorstellen kann. Die Musik zum Soundtrack von Nina Hagen schrieb sich quasi alleine und doch hat man noch heute beim Hören das Gefühl, dass jeder einzelne Ton genau dort sitzen muss, wo er sitzt.

Nina mit ihrer unfassbaren, mehrere Oktaven umfassenden Stimme, rockte die Bühne. Sie schrie, sie kreischte, sie heulte, sie jammerte und sang Arien zu Gitarrenriffs, die bis heute unerreicht bleiben. Niemand in der gesamten, auch internationalen Rockgeschichte erreichte je dieses Niveau, mit seiner Stimme diesen klaren, puren Rock'n'Roll auszudrücken. „Rockröhre“ ist der mindeste, aber doch viel zu vereinfachende Name für etwas, was weder vor, noch nach den Platten „Nina Hagen Band“ und dem Nachfolger „Unbehagen“ für eine einzigartige Leistung steht. Ich begriff das, noch während ich damals dem Rockpalast zusah. Ich stierte geradezu mit großen Augen und offenem Mund auf den Bildschirm und konnte kaum glauben, was ich da gerade sah. Ganze Welten taten sich für mich auf, als ich Stücke wie „Auf'm Bahnhof Zoo (im Damenklo)“ hörte. „Auf'm Bahnhof Zoo im Damenklo, ist es geschehen, es war sooo schön, Dein Straps zerriss, ich hob ihn auf, ich küsste Dich, Du küsstest mich, WIR küssten uns!“ – eine Hymne auf lesbische Sexszenen, wenn man den Bahnhof Zoo Ende der 70er kennenlernen durfte – es war die Zeit, in der „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ erschien. Ausnahmslos jedes einzelne Stück ist eine Perle. Ich kenne Bands, die mit diesem Hitpotential fünf Platten nacheinander gefüllt hätten, indem sie im Rest irgendwelche olle Kamellen verwertet hätten – und diese fünf Platten würde heute trotzdem jeder kennen.

Das Werk beginnt mit „TV-Glotzer“ und von dem Moment an, in dem die Ansagerin Nina jedem einen „recht guten Empfang“ wünscht, setzt die Gitarre von Bernhard Potschka wie eine Kreissäge ein und ab dieser Sekunde ist Punk vom ersten bis zum letzten Stück, die ganze LP hängt in keiner einzigen Sekunde durch und reißt mich heute immer noch genauso mit, wie sie es vor zehn, vor zwanzig, vor dreißig, ja fast vor vierzig Jahren getan hat. Sie ist ein Juwel und viele ihrer Stücke wurden zu Hymnen. „Rangehen“ und „Unbeschreiblich weiblich“ für die damals noch in den Kinderschuhen steckende, emanzipatorische Frauenbewegung, „Der Spinner“ für die Schwulenbewegung, „Naturträne“ für die Lyriker und Opernfans, „Heiß“ und „Superboy“ als Ausdruck sexuell befreiter Lust und „Pank“ ist bis heute noch das Lieblingsstück derjenigen, die in der gleichnamigen Bewegung unterwegs waren. Es ist mir unvorstellbar, dass ein ähnliches Goldstück diesen Triumph wiederholen könnte und das Debutalbum von Nina Hagen in der großen, weiten Rock'n'Roll-Arena gilt generell als eines der bedeutenden Alben der deutschen Rockmusik. Letztendlich nutzt jede Beschreibung nichts, wenn man es nicht gehört hat. Bitte schön:

 

 

 

 

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3 Kommentare

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