Das ganz große Ding

Man konnte Opas Husten in der ganzen Wohnung hören. Ich lag um fünf Uhr früh noch im halben Tiefschlaf und am Küchentisch kotterte er, als ob er beschlossen hätte, sich sofort ins Grab zu husten. Immer wieder hob er an. Energisch drückte er den Dreck aus der Lunge, den er sich sein Leben lang angeraucht hatte. Es klang fürchterlich. Jedes Mal wenn ich beim Zuhören dachte, jetzt hätte er es geschafft und es wäre Ruhe mit diesem schrecklichen Geräusch, hob er von neuem an. Wenn Opa Willi erkältet war, wurde es noch schlimmer und er schien sich morgens nicht mehr zu beruhigen. An Schlaf war dann nicht mehr zu denken, weder für ihn, noch für uns anderen: Seine Frau, sowie für uns, die beiden Enkelkinder. Doch in diesen Ferien war ich allein zu Besuch. Das Röcheln, Ächzen und Auspressen des Hustens war schlimmer, als die andere Sache, die er jeden Morgen wiederholte, denn es störte unseren Schlaf nicht weiter, wenn er soff. Er füllte sich jeden Morgen ein Wasserglas voll Doppelkorn und trank es langsam runter zwischen den Hustenanfällen.

Er ließ sich Zeit damit, weil er durchs Saufen nicht unzurechnungsfähig werden wollte. Er wusste, woran er war und er mochte es nicht. Meist machten wir tagsüber einen Ausflug und wenn eines unter gar keinen Umständen in Frage kam, dann war es, dass sich Oma statt seiner hinters Steuer klemmte. Das Kottern ließ meist erst nach ner Stunde nach. Man konnte sich drauf verlassen, dass es dann besser wurde, wenn man den Zigarettenrauch wahrnahm, der sich durch den Türspalt ins Kinderzimmer drückte. Während der Anfälle machte es keinen Sinn zu rauchen, weil ihm die Kippe sonst aus der Hand flog. Opa fehlten zwei Finger an der rechten Hand, so dass zwischen dem kleinen Finger und dem Zeigefinger eine Lücke entstanden war. Während des Krieges hatte ihm ein Blindgänger einer Granate die beiden Finger ausgerissen, als sie sich doch noch dazu entschlossen hatte, ihren Dienst zu tun. Dafür bekam er wiederum dienstfrei, worüber er nicht unglücklich war, wie er uns immer wieder verriet. Jedenfalls konnte er sich nicht abgewöhnen, trotz der beiden fehlenden Glieder für alles Alltägliche die Rechte zu nehmen. Wenn er sein Wasserglas „Dornkaat“ mit den verbliebenen drei Fingern in die Lücke seiner Hand klemmte und dazwischen auch noch die Zigarette hielt, sah es jedes Mal so aus, als sei der Abstand dafür bemessen. Das Glas passte da genau rein. Es hatte sogar eine gewisse Eleganz, ihn so trinken und rauchen zu sehen. Dass er nach Schnaps und Zigaretten roch, gehörte zu ihm – darüber machte ich mir keine Gedanken.

Einmal fuhren wir schon morgens in einen nahen Vergnügungspark, in dem es unendlich viele Achterbahn- und Karussell-Fahrten gab und ich wollte die ganze Hustenstunde über gar nicht mehr einschlafen, weil es doch bestimmt gleich losging und ich die Abfahrt keinesfalls verpassen wollte. Dass er schon morgens betankt war, war mir irgendwie klar, aber es gehörte zum Gewohnten. Mir war auch weniger das Saufen bewusst, sondern mehr das, was es aus ihm machte. Deswegen schien es mir nicht unwahrscheinlich, dass er einfach ohne mich losfuhr und es erst auf der Autobahn bemerken würde. Als ich in der Karre drin saß, war ich zufrieden. Es konnte jetzt nicht mehr viel schief gehen. An der Tanke, an deren Preise ich mich seltsamer Weise heute noch erinnere, ließ er den Wagen für 13 Mark volltanken, das waren 26 Liter zu aufgerundet 50 Pfennig, da der Tankwart noch die Scheiben putzte und Wasser und Öl kontrollierte, während der Wackeldackel auf der Ablage fleißig der umhäkelten Klorolle zunickte. Dann ging es weiter und „Dornkaat-Willi“ fuhr mich ins Kinderparadies. Das war sein Name in der Stammkneipe. Dornkaat-Willi.

Jeder nannte ihn so, selbst ich wusste das, aber ich durfte ihn nie so nennen, obwohl mir der Name gut gefiel. Im Park ging dann jeder von uns seinem eigenen Vergnügen nach. Um vier Uhr nachmittags trafen wir uns an einer vorher verabredeten Stelle wieder und bis dahin fuhr ich sechs Stunden am Stück Achterbahn. Eines Tages sollte er auf mich aufpassen, obwohl wir keinen Ausflug unternahmen. Oma reiste zu ihrer Freundin und trug ihm auf, sich um mich zu kümmern, bis sie abends zurück sei. Er hielt es aber nur bis mittags aus. Dann gingen wir in die Stammkneipe. Dornkaat-Willis Freunde freuten sich über den unerwarteten Besuch und ich durfte erstmals Cola trinken. Außerdem kriegte ich ein Schnapsglas voll Bierschaum, was lustig am Gaumen kitzelte. Ich betrachtete den Spielautomaten an der Wand. Er hieß "Lord" und hatte drei schwere mechanische Walzen mit nur zwölf verschiedenen Bildern drauf. Jedes Mal, wenn man an der richtigen Stelle auf die Stopptasten drückte, konnte man das Bild der zweiten und dritten Walze der ersten angleichen.

Ziel war es, auf allen drei Walzen das gleiche Bild erscheinen zu lassen und aus dem Münzfach rasselte der Gewinn. Der Mann, der daran spielte, hatte den Sinn des Spiels offensichtlich nicht verstanden. Er drückte an den falschen Stellen. Mir kam das komisch vor, denn aus dem Kinderblickwinkel von unten nach oben konnte ich die Walzen und deren Bewegung genau verfolgen. Warum nur verpasste er jedes Mal den Moment? Es waren doch nur zwölf Bilder und wenn ich das Auge etwas unscharf stellte, konnte ich ganz genau den Takt des Kronenbildes sehen, wie es etwa vier mal pro Sekunde vorbei rauschte. Opa ließ fünfzig Pfennig springen. „Das ist für Dich. Wenn Du gewinnst, darfst Du behalten, was rauskommt“. Da ich zu klein war, schob er die 50 Pfennig selbst durch den Einwurf und die Walzen begannen zu rotieren. Ich schaute schräg nach oben, kriegte ein Gefühl für den Takt des Gewinnbilds, stellte den Blick unscharf und drückte drei mal nacheinander die Kronen. Der Apparat blinkte wie Feuerwerk, machte einen Höllenlärm und spuckte fast zwanzig Mark aus, indem die Münzen nur so raus ratterten und im Münzfach klirrend aufeinander krachten. Da lag der ganze Krempel unsortiert in Groschen, Fünfzigern und Markstücken, das Fach reichte kaum aus vor lauter Kleingeld.

Dornkaat-Willis Stammkneipenfreunde verstummten augenblicklich. Auch die Wirtin hielt die Luft an. Es war wie in „12 Uhr mittags“, kurz bevor die Colts rauchten. Ich kehrte die Münzen in der Ausgabe zusammen und stopfte mir die Taschen voll. Opa witterte augenblicklich Ruhm und Ehre. Er erkannte als Erster das vermeintlich einzigartige Talent. Zudem staunte uns die ganze Theke zu. Dabei hatte ich nichts anderes getan, als den Augenblick zu sehen, in dem man drauf drücken musste. Es war ganz einfach. Die Walzen waren für mein Kinderauge zu langsam. Aber kein Anderer kam drauf, seinen fünfjährigen Enkel mit in die Kneipe zu nehmen. Deswegen fiel das nicht vorher auf. Er zog einen weiteren Fünfziger aus der Tasche und ich wiederholte das Kunststück. Es war leicht. Ein Kinderspiel. Augenblicklich entbrannte eine Diskussion darüber, ob es legal sei, den Automatenaufsteller so auszunehmen. Die Wirtin schaltete sich mit dem Hinweis ein, ich dürfe ja nicht mal in der Kneipe sein. Dass sie mir eben noch Bier aus dem Zapfhahn in ein Schnapsglas gab, hatte sie scheinbar erfolgreich verdrängt. Opa orderte noch einen Kurzen und gab mir weitere 50 Pfennig. Es klappte schon wieder. Meine Hosentaschen platzten aus allen Nähten. Das Münzgeld zog mir die Hose so schwer nach unten, dass ich sie festhalten musste. "Lass uns gehen, Kleiner", sagte er. "Ich hab' genug gesehen". Dann zahlte er, nahm mich an der Hand und führte mich zur Eisdiele nebenan, wo er mir ein riesiges Fünf-Kugel-Eis spendierte und wir gemeinsam die Beute zählten. „Wenn wir noch mal zurückgehen, wirst Du zahlen müssen“, sagte er.

Während ich das Eis schleckte, sah ich ihn an. Er klemmte sich ein Bier in die Fingerlücke und wirkte jetzt sehr nachdenklich. Das Schlimmste an der Geschichte war, dass er es nicht mal Oma erzählen durfte. Denn es gab nur eins, was er wirklich fürchtete. Und das hätte er nicht riskiert. „Kein Wort davon zu Oma!“, ermahnte er mich. Ich nickte wissend. Für die nächsten beiden Ferienwochen war der Nachschub an Eis gesichert.

 

 

 

 

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3 Kommentare

  1. Gelesen am salonabend Thomas am 3.11.17

  2. Gelesen am 11.09.17 am Lesetresen, Café Cralle, Text 1

  3. Das ist ja toll!!! Ich hätte gerne noch weitergelesen. 

    Ganz liebe Grüße und schönen Abend euch beiden,

    Angela 

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